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Handlungsoptionen in Bezug auf die Teilhabe

Erstellt am: 19.12.2019 | Stand des Wissens: 10.11.2023
Synthesebericht gehört zu:

In den vergangenen Jahren sind die Energie- und Kraftstoffpreise angestiegen, wobei im Frühjahr 2022 ein außergewöhnlicher Preissprung zu verzeichnen ist. Wirtschaftsverbände führen diesen auf den russischen Einmarsch in der Ukraine zurück, der Ende Februar begann [dpa22]. Allerdings findet der größte Teil der Steigerung nicht beim globalen Rohölpreis oder bei den Steuern statt. Stärker wirkt der Überschuss der Ölkonzerne, der die Kraftstoffe verteuert [Diek22].
Der Preisanstieg trifft besonders diejenigen Menschen, die wenig Einkommen haben und auf einen Pkw als Hauptverkehrsmittel angewiesen sind. Schätzungsweise sind in Deutschland 5 Prozent der Bevölkerung einkommensarm und haben gleichzeitig keine Alternative zum Pkw. Sie befinden sich in der Situation einer alternativlosen Autoabhängigkeit oder 'Forced Car Ownership'. Auch die Tarife des Öffentlichen Nahverkehrs steigen, und das im Langzeitvergleich sogar deutlich stärker als die Kosten für den Kauf und Unterhalt von Pkw [BMVI19am; Matti17].
Zusätzlich ist davon auszugehen, dass auf Grund steigender Energie- und Kraftstoffpreise einerseits und sinkender Bevölkerungs- und somit Versorgungsdichte in ländlichen Räumen andererseits mobilitätsbedingte soziale Exklusion in Zukunft verstärkt zur Herausforderung wird. Hiervon werden nicht nur, aber verstärkt Menschen abseits größerer Städte betroffen sein. Daher sollten die Ziele, Mobilität zu ermöglichen und Daseinsvorsorge zu sichern, gleichsam verfolgt werden.
Es gibt somit zwei grundsätzliche Handlungsebenen für die Stärkung mobilitätsbedingte Teilhabe, die monetäre und die planerische [FGSV15b].
Monetäre Maßnahmen setzen bei den Kosten für die Verkehrsmittelnutzung an. Sie können einerseits die Nutzungskosten bestimmter Verkehrsmittel senken beispielsweise durch eine erweiterte Subventionierung des ÖPNV-Betriebes. Im Rahmen der Daseinsvorsorge wurden ÖPNV-Angebote im Jahr 2018 bundesweit zu etwa einem Viertel durch die öffentliche Hand bezuschusst (durchschnittlicher Kostendeckungsgrad der deutschen ÖPNV Unternehmen: 74,4 Prozent, wobei in diesem Betrag auch öffentliche Mittel etwa für die bestellten Verkehrsleistungen stecken [Dzia20]; Werte für einzelne Unternehmen schwanken jedoch stark). Zu Anfang der Covid-19-Pandemie mussten die Verkehrsunternehmen zeitweise einen Rückgang der Fahrgastzahlen um die Hälfte verzeichnen, wodurch die Länder und Kommunen zusätzlich unter Finanzierungsdruck stehen [FoSc20].
Eine Senkung der Fahrpreise bis hin zu einem vollständig kostenlosen ÖPNV (einhergehend mit einem dann gegebenenfalls stark erhöhte Subventionsbedarf) wurde im Jahr 2018 im Zusammenhang mit den EU-weiten Verpflichtungen zur Luftreinhaltung diskutiert [NAW19]. Mit Verweis auf soziale Auswirkungen sowie auf den Klimaschutz wird auf Österreich verwiesen. In Wien (seit 2012) und Salzburg (seit 2022) gilt das 365-Euro-Ticket, das für diesen Betrag zur ganzjährigen Nutzung des ÖPNV berechtigt. Diese Maßnahme ist allerdings hinsichtlich ihrer Lenkungswirkung vom Pkw zum ÖPNV umstritten [Daub22]. Auch ist sie im Sinne der Teilhabesicherung nicht zielgerichtet, sondern betrifft einkommensstarke wie einkommensschwache Personen gleichermaßen.
Um die Bevölkerung von steigenden Energiepreisen zu entlasten, verabschiedete die Bundesregierung im März 2022 ein "Entlastungspaket" das unter anderem das 9-Euro-Ticket umfasste: Für drei Monate kostete der ÖPNV bundesweit nur 9 Euro im Monat. Diese Maßnahme war sehr populär, da das 9-Euro-Ticket einfach verständlich und sehr günstig war. 98 Prozent der Bevölkerung in Deutschland kannten das Angebot und es wurde durch etwa 33 Millionen Menschen genutzt, was einem guten Drittel der Bevölkerung in Deutschland entspricht [Gro23]. Menschen in Armut lobten das 9-Euro-Ticket als enorme Erleichterung ihres Alltags, wie verschiedene Erhebungen aufzeigten [Abe22; Hil22]. Neben dem günstigen Ticket umfasste das Entlastungspaket eine Senkung der Energiesteuer auf Kraftstoffe sowie Einmalzahlungen für Angestellte und Arbeitssuchende.
Noch während der dreimonatigen Gültigkeit des 9-Euro-Tickets baute sich der politische Druck auf, einen Nachfolger für das populäre bundesweite Ticket zu schaffen. Dies wurde mit dem Deutschlandticket für (vorerst) 49 Euro im Monat umgesetzt, das seit Mai 2023 erhältlich ist. Allerdings ist es nicht so intuitiv nutzbar wie das 9-Euro-Ticket. Das Deutschlandticket ist nur im Abonnement erhältlich und muss i.d.R. bis zum 10. eines Monats gekündigt werden. Insbesondere für Einkommensarme ist es etwas komplizierter, denn ein bundesweites Sozialticket gibt es nicht. Stattdessen gelten mindestens 15 verschiedene Sozialtickets (Abb. 1). Einige erlauben eine lokale ÖPNV-Nutzung (etwa für monatlich 25 Euro in Bremen, aber nicht Bremerhaven), andere gelten bundesweit (etwa für 15 Euro in Freiburg, 19 Euro in Hamburg).
Für das erste Gültigkeitsjahr hat die Bundesregierung das Deutschlandticket finanziert, doch die mittelfristige Zukunft des Angebots ist offen. Befürchtet wird, dass durch das Pauschalangebot mehrere Milliarden Euro jährlich aus dem ÖPNV-System gezogen werden, die bisher aus den Fahrgeldeinnahmen stammten. Diese, so die Bedenken, fehlen jetzt für den Ausbau des Nahverkehrs, den es für eine Dekarbonisierung des Verkehrssektors bräuchte, um die verbindlichen Pariser Klimaziele zu erreichen [ago22]. 
Grafik CA.pngAbbildung 1:Bundesweite Übersicht über Sozialtickets, die das Deutschlandticket ergänzen [Abe23]
In finanzieller Hinsicht wird somit das Maß von mobilitätsbedingter sozialer Ausgrenzung zumindest an den Orten mit einem Sozialticket unmittelbar und schnell verringert. In Freiburg oder Hamburg beispielsweise bedeutet das Sozialticket einen enormen Gewinn an Mobilitätschancen für einen niedrigen Preis. Allerdings kann dieser Ansatz nur dann effektiv sein, wenn angebotsseitig das Verkehrssystem und die Erreichbarkeit von Orten der Daseinsvorsorge entsprechenden Anforderungen genügen.
Daher sind auch planerische Maßnahmen notwendig, die das Verkehrssystem und die Raumstruktur entsprechend gestalten. Ihr Ziel sind Veränderungen, die es Menschen ermöglichen, ihre alltäglichen Bedürfnisse mit möglichst geringem Verkehrsaufwand zu befriedigen. Relevante Ansätze in der Stadt- und Regionalplanung sind die Stadt der kurzen Wege, qualifizierte Siedlungsdichte und Funktionsmischung (statt zum Beispiel Einkaufszentren fernab von Siedlungsschwerpunkten). Darüber hinaus können Mobilitätsangebote optimiert werden. In diesen Bereich fallen (zeitlich) flexible, bedarfsorientierte oder on-demand-Dienste öffentlicher oder öffentlich beauftragter Anbieter, aber auch selbstorganisierte Projekte wie Bürgerbusse. Die Verbesserung der Infrastruktur für aktive Mobilität ist ein weiteres Element. Gerade in Kombination mit dem öffentlichen Verkehr kann das Fahrrad, das als E-Bike oder Pedelec zunehmend für weitere Strecken und mehr Zielgruppen nutzbar wird, ein wichtiges Mobilitätswerkzeug sein. Voraussetzung hierfür sind sichere und direkte Routen sowie diebstahlgesicherte Abstellmöglichkeiten am Start und Zielort der Fahrradfahrt.
Weitere planerische Maßnahmen zielen auf das Mobilitätsverhalten ab. Sie bauen Zugangshürden ab, indem beispielsweise ältere Personen an das Busfahren herangeführt werden. Auch Radfahrtrainings für ältere Menschen (die länger nicht mehr Rad gefahren sind oder auf elektrisch unterstütze Räder umsteigen) und jene, die wenig oder keine Raderfahrung haben (etwa Migrantinnen, die in ihrem Heimatland nicht radfahren gelernt haben; [EHM13]) sind in diesem Bereich relevante Angebote.
Strategien, um mobilitätsbedingte Exklusion zu bekämpfen, sind somit akteursübergreifend. Während beispielsweise Subventionen von staatlichen Institutionen auf unterschiedlicher Ebene gewährt werden (EU, Bund, Land, Kommune), sind an der Ausgestaltung des Verkehrsangebots sowohl Kommunen als auch die Verkehrsverbünde und -unternehmen beteiligt. Bei Maßnahmen, die auf das Mobilitätsverhalten abzielen, werden zudem weitere Akteure wie ortsansässige Arbeitgeber und Interessensverbände eingebunden.
Ansprechpartner
Technische Universität Hamburg, Institut für Verkehrsplanung und Logistik, Prof. Dr.-Ing. H. Flämig
Zugehörige Wissenslandkarte(n)
Soziale Dimension von Mobilität und Verkehr (Stand des Wissens: 24.06.2022)
https://www.forschungsinformationssystem.de/?507232
Literatur
[Abe22] Aberle, Christoph, Havemann, Franziska, Porsche, Laura, Weissinger, Julian Endlich kann ich meine Enkelkinder öfter mal sehen: wie einkommensarme hvv-Fahrgäste das 9-Euro-Ticket nutzen und was das Ende des Angebots für sie bedeutet, 2022/08
[Abe23] Aberle, Christoph Was bringt das Deutschlandticket? , 2023
[ago22] Agora Verkehrswende (Hrsg.) Das 9-Euro-Ticket und die Verkehrswende (Teil 3), 2022/11/15
[BMVI19am] Bundesministerium für Digitales und Verkehr (Hrsg.) Mobilität in Deutschland - MiD: Zeitreihenbericht 2002 - 2008 - 2017, 2019/12
[Daub22] Daubitz, Stephan; , Aberle, Christoph; , Schwedes, Oliver; , Gertz, Carsten Mobilität und soziale Exklusion, 2022/06
[Diek22] Diekmann, Tim Preise für Benzin und Diesel sinken nur sehr langsam, 2022/03/23
[dpa22] dpa Steigende Energiepreise: DIHK warnt vor Kostenexplosion, 2022/03/13
[Dzia20] Dziambor, Ursula; , Rehse, Sebastian; , Niesen, Birgit VDV Statistik 2019, 2020/10
[EHM13] Ehmayer, Cornelia; , Brosenbauer, Barbara; , Fürst, Eva Pilotprojekt "Mama fährt Rad": Evaluierung, 2013
[FGSV15b] FGSV Hinweise zu Mobilität und sozialer Exklusion. Forschungsstand zum Zusammenhang von Mobilitäts- und Teilhabechancen, veröffentlicht in FGSV W1 - Wissensdokumente, Ausgabe/Auflage 164, Köln: FGSV Verlag GmbH, 2015
[FoSc20] Follmer, Robert; , Schelewsky, Marc Mobilitätsreport 02. Ergebnisse aus Beobachtungen per repräsentativer Befragung und ergänzendem Mobilitätstracking bis Ende Juni, 2020/07/13
[Gro23] Grotemeyer, Christian, Flatrate-Tarifgestaltung im ÖPNV: Das 9-Euro-Ticket und seine Folgen, veröffentlicht in Handbuch der kommunalen Verkehrsplanung. Strategien, Konzepte, Maßnahmen für eine integrierte und nachhaltige Mobilität: Wichmann, Berlin/Offenbach, 2023, ISBN/ISSN 978-3-87907-609-3
[Hil22] Hille, Claudia, Gather, Matthias Das 9-Euro-Ticket hat mir gezeigt, dass man nicht alleine sein muss. Mit dem 9-Euro-Ticket zu mehr sozialer Teilhabe? , veröffentlicht in Berichte des Instituts Verkehr und Raum, Ausgabe/Auflage 29, 2022
[Matti17] Mattioli, Giulio 'Forced Car Ownership' in the UK and Germany: Socio-Spatial Patterns and Potential Economic Stress Impacts, 2017/12/28
[NAW19] Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina Saubere Luft. Stickstoffoxide und Feinstaub in der Atemluft: Grundlagen und Empfehlungen, 2019
Glossar
Pedelec
Pedelec (Pedal Electric Cycle) ist ein Begriff für Elektrofahrräder, bei welchen der Fahrer vom Elektroantrieb unterstützt wird, wenn dieser in die Pedale tritt. Das Fahrrad kommt hierbei auf eine Leistung von bis zu 250 Watt, wodurch eine Geschwindigkeit von bis zu 25 Kilometer pro Stunde erreicht werden kann.
Laut § 1 Absatz 3 des Straßenverkehrsgesetztes (StVG) sind Pedelecs mit dieser Leistung einem Fahrrad rechtlich gleichgestellt.
Bei schnellen Pedelecs (S-Klasse) ist dies nicht der Fall. Diese zählen zu den Kleinkrafträdern und können bei einer maximal erlaubten Nenn-Dauerleistung von 500 Watt eine Geschwindigkeit von bis zu 45 Kilometern pro Stunde erreichen. Deshalb sind für diese eine Zulassung sowie ein Versicherungskennzeichen notwendig.
Aktive Mobilität
Die Aktive Mobilität (im Gegensatz zur passiven Mobilität durch motorisierte Verkehrsmittel) umfasst alle Fortbewegungsarten, die ganz oder teilweise auf köperlicher Aktivität (Muskelkraft) basieren (zu Fuß gehen, Fahrradfahren, Tretroller, Kickboard). Aktive Mobilität fördert Fitness & Gesundheit, ist mit geringen Kosten umzusetzen und erhöht die Lebensqualität. Das E-Bike ist eine Mischform aus Aktiver und passiver Mobilität.
Öffentlicher Personennahverkehr
Der öffentliche Personennahverkehr ist juristisch im Personenbeförderungsgesetz (PBefG) definiert. Laut Paragraf 8, Absatz 1 und 2 umfasst der ÖPNV "die allgemein zugängliche Beförderung von Personen mit Straßenbahnen, Obussen und Kraftfahrzeugen im Linienverkehr, die überwiegend dazu bestimmt sind, die Verkehrsnachfrage im Stadt-, Vorort- oder Regionalverkehr zu befriedigen". Taxen oder Mietwagen können dieses Angebot ersetzten, ergänzen oder verdichten.
Der Begriff ÖPNV bezieht sich in der Regel auf Strecken mit einer gesamten Reiseweite von weniger als 50 Kilometern oder einer gesamten Reisezeit von weniger als einer Stunde. Das in einer Stadt oder Region erforderliche Nahverkehrsangebot und dessen Eignung hinsichtlich Nachhaltigkeit und Klimaschutz wird in einem Nahverkehrsplan definiert und festgehalten.
Verkehrsleistung
Die Verkehrsleistung gibt Auskunft über die Inanspruchnahme von Ressourcen. Als Verkehrsleistung wird die auf eine Zeiteinheit t (zum Beispiel ein Jahr) bezogene Verkehrsarbeit definiert und als Quotient dargestellt. Die Verkehrsarbeit wird dabei als Produkt von Verkehrseinheiten (zum Beispiel Güter oder Personen) und der durch diese zurückgelegten Strecke gebildet. In der Verkehrswissenschaft sind die Einheiten Personenkilometer pro Jahr [Pkm/a] oder Tonnenkilometer pro Jahr [tkm/a] gebräuchlich.

Auszug aus dem Forschungs-Informations-System (FIS) des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur

https://www.forschungsinformationssystem.de/?507149

Gedruckt am Freitag, 26. April 2024 10:57:11