Europäische Rahmenbedingungen zur Reformierung der Eisenbahn
Erstellt am: 12.05.2010 | Stand des Wissens: 10.09.2022
Synthesebericht gehört zu:
Ansprechperson
Karlsruher Institut für Technologie (KIT), Institut für Volkswirtschaftslehre (ECON), Prof. Dr. Kay Mitusch
Unterschiedliche nationale Verkehrsregulierungen weisen ähnliche wettbewerbshemmende Wirkungen wie Zölle und mengenmäßige Beschränkungen auf. Obwohl sogar entsprechende Bestimmungen im EG-Vertrag vorgesehen waren, wurde eine gemeinsame europäische Verkehrspolitik jahrzehntelang vernachlässigt [Herm06a]. Ausgangspunkt für die europäischen Liberalisierungsbemühungen im Verkehrssektor war eine Untätigkeitsklage des Europäischen Parlaments vor dem Europäischen Gerichtshof im Jahr 1985. Die Europäische Kommission wurde hierdurch verpflichtet, zur Harmonisierung und Liberalisierung der nationalen Verkehrsmärkte beizutragen [From94]. Sechs Jahre später wurde die erste Richtlinie für den Eisenbahnsektor verabschiedet, deren vorrangigen Ziele es waren, einen einheitlichen europäischen Eisenbahnmarkt zu etablieren und die Wettbewerbsfähigkeit der Eisenbahn zu erhöhen [91/440/EWG]. Aufgrund diverser Regelungslücken wurden 1995 ([95/18/EG] und [95/19/EG]), 2001 (Erstes Eisenbahnpaket), 2004 (Zweites Eisenbahnpaket) und 2007 (Drittes Eisenbahnpaket) und 2013 beziehungsweise 2016 (Viertes Eisenbahnpaket) weitere Richtlinien verabschiedet.
Das vierte Eisenbahnpaket wurde 2013 mit verschiedenen Legislativvorschlägen der Europäischen Kommission vorgelegt. Dieses Eisenbahnpaket verfolgt das Ziel, den Eisenbahnverkehrsmarkt weiter zu liberalisieren. Insbesondere sollen die inländischen Märkte für Schienenpersonenverkehr geöffnet, die Leistungsstrukturen von Infrastrukturbetreibern verbessert und die Trennung von Infrastrukturbetreiber und Eisenbahnunternehmen in vertikal integrierten Unternehmen (VIU) verschärft werden [EC13]. Die Umsetzung der technischen Säule des vierten Eisenbahnpakets erfolgte in Deutschland und in den übrigen Mitgliedsstaaten zum 16.06.2020 [ERA19].
Als zentrale Voraussetzung für die Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit der Bahnen wurde eine Trennung von Netz und Betrieb angestrebt. Betreiber der Infrastruktur sollten nicht mehr gleichzeitig Verkehrsleistungen erbringen, um wirksamen intramodalen Wettbewerb auf der Schiene etablieren zu können. Unternehmen, die Verkehrsleistungen auf der Schiene anbieten möchten, benötigen den Zugang zur Infrastruktur wie beispielsweise den Zugang zu Gleisen. Diese Kerninfrastruktur stellt jedoch ein natürliches Monopol dar. Von einem Betreiber der Infrastruktur, der gleichzeitig Verkehrsleistungen erbringt, gehen daher erhebliche Diskriminierungsgefahren aus. Beispielsweise wäre solch ein Betreiber daran interessiert, seinen Wettbewerbern den Zugang gar nicht oder nur zu unzumutbaren Bedingungen zu ermöglichen. Darüber hinaus sollte durch eine Trennung von Netz und Betrieb Quersubventionierungen zwischen beiden Bereichen verhindert werden, um eine jeweils effiziente Leistungserbringung zu erzielen. Das europäische Recht sieht jedoch nur eine organisatorische Trennung von Netz und Betrieb vor. Vertikal integrierte Unternehmen sind noch immer zulässig [Herm06a]. Der Europäische Gerichtshof bestätigte in seinem Urteil vom 28. Februar 2013 die Zulässigkeit der vertikal integrierten Deutsche Bahn AG [DB13a, S. 42].