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Räumliche Aspekte der Teilhabe

Erstellt am: 19.12.2019 | Stand des Wissens: 10.11.2023
Synthesebericht gehört zu:

Gesellschaftliche Teilhabechancen können unter anderem räumlich betrachtet werden. Dazu wird die Erreichbarkeit von Einrichtungen der Daseinsvorsorge betrachtet: Sind beispielsweise Bildungseinrichtungen, Arbeitsplätze, Einkaufsmöglichkeiten und Arztpraxen in vertretbarer Zeit zu erreichen, dann ermöglicht das den vor Ort lebenden Menschen eine Teilnahme am gesellschaftlichen Leben. Dabei ist zu beachten, dass es keine allgemeingültigen Definitionen dafür gibt, welche Reisezeiten als vertretbar zu bewerten sind und ob oder inwiefern sich diese Bewertung für verschiedene Gruppen unterscheidet. Es gibt jedoch die in Abbildung 1 gezeigten Empfehlungen dafür, innerhalb welcher Reisezeiten bestimmte Ortstypen der Raumordnung erreichbar sein sollen. Dabei basiert das Konzept der zentralen Orte auf Paragraf 2(2)2. und 3. des Raumordnungsgesetzes (ROG) [EINI12].
Empfehlungen fuer maximale Reisezeiten vom Wohnort zu zentralen Orten.jpg.pngAbb. 1: Empfehlungen für maximale Reisezeiten vom Wohnort zu zentralen Orten; nach [GERL09]
Die Frage nach räumlicher Teilhabe stellt sich vor allem vor dem Hintergrund einer zunehmenden Abwanderung aus dem ländlichen Raum zugunsten von Städten und suburbanen Räumen (siehe Abbildung 2): In den suburbanen Räumen in der Nähe von Großstädten wird eine Zunahme der Bevölkerung erwartet, während der ländliche Raum, insbesondere in den neuen Bundesländern, voraussichtlich von Abnahme geprägt sein wird. Diese Entwicklung fügt sich in einen globalen Trend der Urbanisierung ein. Die im ländlichen Raum verbleibende Bevölkerung ist in der Regel vergleichsweise alt und sieht sich als Folge einer schrumpfenden Bevölkerungsdichte auch einem abnehmenden Angebot an Versorgungsmöglichkeiten gegenüber. Insbesondere für Dienstleistungen und Einrichtungen des täglichen Bedarfs dieser Altersgruppe (beispielsweise ärztliche Versorgung) besteht dringender Handlungsbedarf [BBSR17b].
Teilhabe_raeumliche Aspekte.pngAbb. 2: Prognose der Bevölkerungsentwicklung in Deutschland bis 2035 [BBSR17b, S. 15]
Eine besondere Rolle spielt die räumliche Erreichbarkeit für Menschen, die nicht über einen Pkw verfügen. Sie sind besonders auf nahräumige Versorgungsangebote angewiesen, die zu Fuß oder mit dem Fahrrad erreichbar sind [SCHW15]. Für weitere Wege sind sie vom öffentlichen Nahverkehr abhängig, dessen Qualität (Frequenz, abgedeckte Tageszeiten) generell mit steigender Entfernung zum nächsten Ober- oder Mittelzentrum abnimmt, da er in ländlichen Räumen stark auf die Beförderung von Schüler ausgerichtet ist.
In vielen ländlichen Gebieten wird das geringe Angebot im öffentlichen Nahverkehr durch Bürgerbusse ergänzt und bisweilen ersetzt. Diese werden in der Regel von lokalen Verkehrsunternehmen in Kooperation mit gemeinnützigen Vereinen betrieben und von Ehrenamtlichen gefahren. Bürgerbusse fahren bedarfsabhängig und arbeiten nicht profitorientiert [BURM07]. Nach Angaben des nordrhein-westfälischen Interessenverbands der Bürgerbusvereine gibt es in Deutschland mehr als 260 derartige Angebote, wobei die Bedienungsform ihren Ursprung in den Niederlanden hat [WEST15].
In Deutschland sowie im Vereinigten Königreich lässt sich beobachten, dass ehrenamtlich getragene Fahrdienste einen wesentlichen Teil dazu beitragen, Menschen mit einem Anschluss an das tägliche Leben zu versorgen, die ansonsten immobil und damit abgehängt wären: "Der typische Bürgerbusfahrgast ist älter, weiblich und verfügt über kein eigenes Auto" [BURM07, S. 10]. Mit ihrem lokal verankerten und niedrigschwelligen Angebot erleichtern Bürgerbusse gesellschaftliche Teilhabe insbesondere der Bevölkerung im ländlichen Raum [BURM07; LUCA04].
Eine weitere Möglichkeit, Teilhabemöglichkeiten in dünn besiedelten Räumen zu verbessern, sind Lieferdienste (Lebensmittel, Medikamente) und Angebote der Telemedizin [HeHK19]. Hinzu kommen "neue Bedienformen des ÖPNV" wie etwa Ridepooling oder Ridesharing, die zunehmend auch im ländlichen Raum experimentell betrieben werden [RaMa18; KlKa21].
Ansprechpartner
Technische Universität Hamburg, Institut für Verkehrsplanung und Logistik, Prof. Dr.-Ing. H. Flämig
Zugehörige Wissenslandkarte(n)
Soziale Dimension von Mobilität und Verkehr (Stand des Wissens: 24.06.2022)
https://www.forschungsinformationssystem.de/?507232
Literatur
[BBSR17b] Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (Hrsg.) Raumordnungsbericht 2017. Daseinsvorsorge sichern, Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung. Bonn, 2017/06
[BURM07] Burmeister, Jürgen Der Bürgerbus - mehr als ein Lückenbüßer, veröffentlicht in VERKEHRSZEICHEN, Ausgabe/Auflage 23 (1), 2007
[EINI12] Einig, K. Raumordnungsbericht 2011, Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR): Bonn, 2012
[GERL09] Gerlach, J. Richtlinien für integrierte Netzgestaltung: RIN, veröffentlicht in FGSV R 1, Ausgabe/Auflage Vol. 121, Ausg. 2008, FGSV-Verl., Köln, 2009
[HeHK19] Herget, Melanie, Hunsicker, Frank, Koch, Jonas Ökologische und ökonomische Potenziale von Mobilitätskonzepten in Klein- und Mittelzentren sowie dem ländlichen Raum vor dem Hintergrund des demographischen Wandels, Dessau-Roßlau, 2019
[KlKa21] Klaas, Katharina, Kaas Elias, Alexander Verkehrswende im ländlichen Raum
VCD Factsheet 04/2021, 2021/04
[LUCA04] Lucas, Karen Running on empty. Transport, social exclusion and environmental justice, Ausgabe/Auflage 1. publ., Bristol: Policy Press, 2004
[RaMa18] Randelhoff, Martin Ridesharing in ländlichen Räumen - ein Baustein für die Mobilität auf dem Land?, 2018/04/18
[SCHW15] Schwarze, Björn Eine Methode zum Messen von Naherreichbarkeit in Kommunen, 2015
[WEST15] Westfälische Nachrichten Wenn Bürger für Bürger fahren. Erfolgsmodell Bürgerbus in NRW, 2015/11/02
Glossar
Öffentlicher Personennahverkehr
Der öffentliche Personennahverkehr ist juristisch im Personenbeförderungsgesetz (PBefG) definiert. Laut Paragraf 8, Absatz 1 und 2 umfasst der ÖPNV "die allgemein zugängliche Beförderung von Personen mit Straßenbahnen, Obussen und Kraftfahrzeugen im Linienverkehr, die überwiegend dazu bestimmt sind, die Verkehrsnachfrage im Stadt-, Vorort- oder Regionalverkehr zu befriedigen". Taxen oder Mietwagen können dieses Angebot ersetzten, ergänzen oder verdichten.
Der Begriff ÖPNV bezieht sich in der Regel auf Strecken mit einer gesamten Reiseweite von weniger als 50 Kilometern oder einer gesamten Reisezeit von weniger als einer Stunde. Das in einer Stadt oder Region erforderliche Nahverkehrsangebot und dessen Eignung hinsichtlich Nachhaltigkeit und Klimaschutz wird in einem Nahverkehrsplan definiert und festgehalten.
Urbanisierung Ausbreitung städtischer Lebens- und Verhaltensweisen, Wachstum der Städte durch Land-Stadt gerichtete Wanderungsbewegungen (Landflucht)
Ridepooling
Das Ridepooling spielt vor allem bei On-Demand-Verkehren eine Rolle. Angeforderte Fahrten, die einem ähnlichen Streckenverlauf folgen, werden gebündelt, um mehrere Fahrgäste pro Fahrt transportieren zu können. Der höhere Pkw-Besetzungsgrad ermöglicht es, insgesamt weniger Fahrzeuge für den Transport von Einzelpersonen einzusetzen, als es beispielsweise im Taxiverkehr der Fall wäre. Dennoch bleibt die Routenbedienung flexibel, indem Strecken immer wieder an neu angeforderte Fahrten angepasst werden.

Auszug aus dem Forschungs-Informations-System (FIS) des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur

https://www.forschungsinformationssystem.de/?507121

Gedruckt am Montag, 29. April 2024 11:17:49