Das Wettbewerbsumfeld des europäischen Schienenpersonenfernverkehrs
Erstellt am: 01.04.2010 | Stand des Wissens: 01.11.2023
Synthesebericht gehört zu:
Ansprechperson
TU Dresden, Professur für Integrierte Verkehrsplanung und Straßenverkehrstechnik, Prof. Dr.-Ing. Regine Gerike
Betrachtet man die Marktanteile der einzelnen Verkehrsträger, hat die Eisenbahn in den vergangenen Jahrzehnten einen starken Bedeutungsverlust erlitten. Während die Schiene im Jahr 1970 noch für einen Anteil von zehn Prozent an der europäischen Personenverkehrsleistung im Landtransport verantwortlich zeichnete, betrug dieser 2020 in der EU-27 nur 6,6 Prozent [EUKOM08c, S. 2; EUKO22a, S. 49].
Die Europäische Union hat den mangelnden Wettbewerb im Eisenbahnverkehr als eine wesentliche Ursache für die schlechte Anpassung der europäischen Bahnen an die Markterfordernisse und die daraus folgenden Marktanteilsverluste im intermodalen Wettbewerb identifiziert. Die grundlegende Strategie der Europäischen Kommission für die Revitalisierung der europäischen Eisenbahn ist, über die Schaffung eines intramodalen Wettbewerbs die intermodale Wettbewerbsfähigkeit des Systems Eisenbahn zu verbessern.
Auch wenn im Rahmen dieser Bestrebungen die Verkehrsleistung der Eisenbahn in Europa gewachsen ist, konnte sie über einen langen Zeitraum bei einer EU-weiten Betrachtung keine Marktanteile zurückgewinnen, wie die folgende Grafik für die Jahre 1995 bis 2020 veranschaulicht. Im Zeitraum von 1995 bis 2019 stieg die Verkehrsleistung der Eisenbahn von 312,7 auf 420,9 Milliarden Personenkilometer, was einem durchschnittlichen jährlichen Wachstum von 1,3 Prozent entspricht und liegt damit ungefähr auf gleichem Niveau mit der jährlichen Steigerung des gesamten Personenverkehrsmarktes (1,2 Prozent). 2020 brach die Verkehrsleistung der Eisenbahn jedoch überdurchschnittlich stark um 46,0 Prozent im Vergleich zum Vorjahr auf 227,3 Milliarden Personenkilometer ein. Der Anteil der Eisenbahn an der Personenverkehrsleistung konnte bis 2019 bei 7,0 Prozent gehalten werden, dank 2020 aber auf 5,1 Prozent (Abbildung 1) [EUKO22a, S. 48].
Abbildung 1: Verkehrsleistung Personenverkehr EU-28, Modal-Split-Entwicklung (eigene Darstellung nach [EUKO22a, S. 48])
Im Vergleich zur EU wurde in der Bundesrepublik Deutschland im selben Zeitraum ein Modal Split-Zuwachs im Personenverkehr von 0,8 auf insgesamt 8,7 Prozent verzeichnet, der Anteil fiel allerdings in den beiden Folgejahren 2020 und 2021 auf 6,4 beziehungsweise 6,1 Prozent. [BMDV22h, S. 221]. Jedoch hat sich im Gegensatz zum Personennah- und Güterverkehr im Bereich des Schienenpersonenfernverkehrs (SPFV) so gut wie kein intramodaler Wettbewerb entwickelt. Dort liegt der Marktanteil der Wettbewerber des Deutsche Bahn AG Konzern unter zwei Prozent [BNet21, S. 16].
Damit unterscheidet sich die Situation in Deutschland teilweise deutlich von der Entwicklung in anderen europäischen Ländern. So sind mittlerweile in Tschechien zwei Wettbewerber der Staatsbahn Ceske drahy (CD) im eigenwirtschaftlichen SPFV auf der [bedeutenden] Korridorstrecke Praha - Ostrava aktiv [Hugh12, S. 33]. Einen radikalen Weg schlug Großbritannien ein. Dort wurde die ehemalige Staatsbahn in mehrere Unternehmen aufgeteilt und diese privatisiert. Seitdem sind dort eine Reihe von privatwirtschaftlichen Eisenbahnverkehrsunternehmen (EVU) im SPFV tätig [Puls14, S. 74 und 84 ff.].
Im "Liberalisierungsindex Bahn 2011" wurde der Liberalisierungsfortschritt im deutschen Schienenverkehr im europäischen Vergleich insgesamt positiv bewertet [IBM11, S. 52]. Dabei wurde jedoch festgestellt, dass die Hürden für etwaige private Wettbewerber im SPFV vor allem wirtschaftlicher Natur sind und weniger im administrativen Rahmen des SPFV-Marktes liegen [HaKo13, S. 105 f. und 109 f.]. Bemängelt wird die restriktive Vergabe von Rahmenverträgen für die Infrastrukturnutzung sowie die unvollständige Trennung von Netz und Betrieb [NEEMo13, S. 8 und 66 f.; HaKo13, S. 112].
Grenzverkehr: Im grenzüberschreitenden Verkehr setzen die Staatsbahnen bislang auf Kooperation, anstatt auf diesen Verbindungen in Konkurrenz zur Staatsbahn des jeweiligen Nachbarlandes zu treten. Beispiele hierfür sind die Verbindungen Stuttgart-Paris oder Frankfurt-Paris, bei denen die französische Staatsbahn Société Nationale des Chemins de fer Francais (SNCF) mit der DB Fernverkehr AG zusammenarbeitet oder auch das Unternehmen Thalys International (Sitz in Brüssel). Dieses verkehrt im grenzüberschreitenden Hochgeschwindigkeitsverkehr zwischen Amsterdam, Köln und Brüssel und befindet sich im Eigentum der SNCF und der Société Nationale des Chemins de fer Belges (SNCB) [DBAG07ad; MON09, S. 71].
Obwohl zahlreiche EU-Verordnungen der letzten Jahre darauf abzielten, den eigenen Markteinstieg in ausländische Netze zu erleichtern, schätzt die DB Fernverkehr AG, dass auch in Zukunft bei grenzüberschreitenden Angeboten Kooperationen mit den EVU des jeweiligen Landes einen Vorteil gegenüber einem eigenständigen Angebot bieten. Vor allem kann dabei auf lokale Ressourcen hinsichtlich der betrieblichen Administration sowie des Notfall- und Sicherheitsmanagements zurückgegriffen werden [Zöll11, S. 7 ff.].