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Negative Mobilitätsentwicklungen von Kindern und Jugendlichen

Erstellt am: 19.06.2006 | Stand des Wissens: 19.01.2021
Synthesebericht gehört zu:
Ansprechpartner
TU Dresden, Professur für Integrierte Verkehrsplanung und Straßenverkehrstechnik, Prof. Dr.-Ing. Regine Gerike

Die Entwicklung der Mobilität von Kindern und Jugendlichen ist hinsichtlich der Verkehrssicherheit, aber auch der körperlichen und geistlichen Entwicklung ein wichtiges Thema. Da diesbezüglich in den letzten Jahren von einer negativen Mobilitätsentwicklung gesprochen wurde, ist es notwendig, sich verstärkt mit diesem Thema zu beschäftigen.
Besonders die mangelhaften motorischen Fähigkeiten von Kindern werden von Gesundheitsämtern und Sportlehrern häufig angesprochen, Schulkinder können zum Beispiel nicht mehr Rückwärtslaufen [Conr05, S. 28; Gwin97, S. 5; KIZZ16]. Auch Eltern suchen aufgrund von körperlichen Auffälligkeiten den Arzt auf. Sie klagen darüber, dass ihre Kinder "nicht mehr stillsitzen [können], [...] zappelig, zu steif oder zu schlaff" [Rau97, S. 20; DAK17] sind. Diese Probleme werden auf einen Bewegungsmangel zurückgeführt [BMVI19am, S. 30], der auf den Rückgang von nichtmotorisierter Mobilität im Allgemeinen und selbstständiger Mobilität im Speziellen basiert. Dies geht mit der Zunahme der motorisierten Begleitmobilität einher [Limb97a, S. 6; FGSV12f]. Speziell die Schulwege von Grundschülern, aber auch Freizeitwege, werden zunehmend als Mitfahrer im elterlichen Auto, dem Elterntaxi absolviert [ADAC18c]. Eltern begründen diesen Sachverhalt durch das hohe Unfallrisiko bei selbstständiger Mobilität der Kinder und durch Zeitmangel bei nicht-motorisierter Begleitung durch die Eltern [Gwin97, S. 8; Conr05, S. 29; ADAC18c]. Dabei wäre der Schulweg eine geeignete Gelegenheit, die körperliche Bewegung von Kindern zu fördern. Diverse Studien belegen, dass Kinder, die nicht selbstständig zur Schule gehen, Probleme in den Bereichen Konzentration, Koordination und räumlicher Orientierung haben. Weiterhin leiden sie häufiger an körperlichen Erkrankungen, Depressionen, Angstzuständen und Aggressivität. Aber auch ihre Selbstständigkeit im Straßenverkehr wird nicht ausreichend gefördert. Das führt paradoxerweise für diese Kinder zu größeren Risiken im Straßenverkehr aufgrund mangelnder Fähigkeiten gegenüber Kindern, die von klein auf aktiv im Straßenverkehr teilnehmen [ADAC18c, FGSV12f].
Weitere Probleme, die durch Bewegungsmangel bei Kindern und Jugendlichen ausgelöst werden, sind die:
  • Zunahme von Übergewicht und Diabetes,
  • Steigerung des Risikos für Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Bluthochdruck,
  • Zunahme von Haltungsschäden sowie
  • Beeinträchtigung des Knochenwachstums und damit Osteoporose im Erwachsenenalter.
Zudem trägt körperliche Aktivität bei Kindern und Jugendlichen zu einer Steigerung des Selbstvertrauens, der sozialen Integration und des Wohlbefindens im Allgemeinen bei [VCÖ04, S. 30 f.; Gwin97, S. 5].
Auch das Umfeld von Kindern beeinflusst deren körperliche und geistige Entwicklung.
Untersuchungen konnten belegen, dass Kinder aus relativ lauten Wohnumgebungen einen erhöhten Blutdruck, einen schnelleren Puls und eine stärkere Konzentration an Stresshormonen aufzeigen. Auch die Lesefähigkeiten von Schulkindern werden erheblich durch Lärmeinwirkung beeinträchtigt. Kinder aus einer lauten Lernumgebung sind gegenüber gleichaltrigen Kindern aus einer leisen Umgebung im Bereich des Lesens durchschnittlich ein Jahr im Rückstand. Weiterhin werden durch Lärmeinwirkungen das Langzeit-Gedächtnis und die Fehlerquote in Tests in Mitleidenschaft gezogen [VCÖ04, S. 27 f.; BMU17]. Besonders in innerstädtischen Bereichen ist die Lärmbelastung hoch. Einen großen Anteil an diesem Lärm besitzt der Straßenverkehr. Es ist somit sinnvoll, gerade in Wohngebieten verkehrsberuhigte Bereiche und kinderfreundliche Wegebeziehungen zu bilden, welche kindliche Mobilität fördern.
Der Erwerb von für die Entwicklung entscheidenden Fähigkeiten, wie Persönlichkeit, Sozialkompetenz, Selbstständigkeit und motorische Geschicklichkeit, setzt solche geeigneten Bewegungs- und Spielräume für Kinder und Jugendliche voraus [Hütt03, S. 28]. Diese Räume sollten sich möglichst in der Nähe der Wohnung befinden und folgende Möglichkeiten bieten:
  • selbstständige Erkundung,
  • Besuch von Freunden sowie
  • selbstständige Bewältigung von Schul-, Spiel- und Einkaufswegen.
Falls diese Möglichkeiten nicht gegeben sind, "können körperliche, geistige und soziale Defizite auftreten (beispielsweise motorische Störungen, Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen, aggressives und unsoziales Verhalten, Leistungsstörungen in der Schule und vieles mehr)" [Limb97a, S. 3].
Es steht im allgemeinen Interesse, diese Voraussetzungen zu schaffen, um vor allem Kindern und Jugendlichen wieder mehr Möglichkeiten für selbstständige Wege zu geben. Es ist gemeinsame Aufgabe von Politikern, Planern und Eltern, die Mobilitätsentwicklung von Kindern (wieder) in die richtige Richtung zu lenken.
Ansprechpartner
TU Dresden, Professur für Integrierte Verkehrsplanung und Straßenverkehrstechnik, Prof. Dr.-Ing. Regine Gerike
Zugehörige Wissenslandkarte(n)
Mobilität von Kindern und Jugendlichen (Stand des Wissens: 31.03.2021)
https://www.forschungsinformationssystem.de/?195757
Literatur
[ADAC18c] Allgemeiner Deutscher Automobil-Club e. V. (ADAC), Ressort Verkehr (Hrsg.) Das Elterntaxi an Grundschulen, 2018
[BMU17] Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz (Hrsg.) Lärmwirkung, 2017/10/24
[BMVI19am] Bundesministerium für Digitales und Verkehr (Hrsg.) Mobilität in Deutschland - MiD: Zeitreihenbericht 2002 - 2008 - 2017, 2019/12
[Conr05] Conradt, Caroline Bewegung macht schlau, veröffentlicht in fairkehr, Ausgabe/Auflage 3/ 2005, 2005/03
[DAK17] DAK Gesundheit (Hrsg.) Bewegungsmangel gefährdet Kindergesundheit , 2017/9/18
[FGSV12f] Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen e.V. (Hrsg.) Gender Mainstreaming im Verkehrswesen. Kinder und Jugendliche als Verkehrsteilnehmende, 2012/12
[Gwin97] Gwinner, Regine Das Glück liegt auf der Straße, veröffentlicht in fairkehr - spezial "Kinder im Verkehr - Initiative des Verkehrsclubs Deutschland", Ausgabe/Auflage Sonderheft 2/ 1997, 1997
[Hütt03] Hüttenmoser, Marco Bewegungsförderung statt Verkehrserziehung?, veröffentlicht in Verkehrszeichen, Ausgabe/Auflage 1/2003, 2003/01
[KIZZ16] KIZZ. Das Elternmagazin für die Kitazeit (Hrsg.) Eine bewegte Kindheit , 2016
[Limb97a] Limbourg, M., Prof. Dra. Kind und Verkehr - alles verkehrt? Kindspezifische Mechanismen und Verhaltensmuster als Auslöser für Unfälle im Verkehr, veröffentlicht in Bericht über die 3. Saarländische Ökopädiatrie - Tagung "Wohin geht die Fahrt?", Saarbrücken, 1997
[Rau97] Rau, Petra Von kleinen Dingen und ihrer großen Bedeutung, veröffentlicht in fairkehr - spezial "Kinder im Verkehr - Initiative des Verkehrsclubs Deutschland", Ausgabe/Auflage Sonderheft 2/ 1997, 1997
[VCÖ04] Verkehrsclub Österreich (VCÖ) Kinder - die Verlierer im Verkehr, veröffentlicht in Wissenschaft & Verkehr, Ausgabe/Auflage 2/2004, Wien, 2004
Weiterführende Literatur
[DBJR20] Deutscher Bundesjugendring (Hrsg.) Junge Menschen bewegen - Eine nachhaltige Mobilitätswende für alle!, 2020/10
[BMG16] Jana Alfes, PD Dr. Jens Bucksch, Prof. Dr. Petra Kolip Kurzbericht - Entwicklung prototypischer Interventionsmaterialien zur Reduzierung von Sitzzeiten von Kindern im Setting Familie, 2016/01/31
[NoKu18] infas Institut für angewandte Sozialwissenschaft , Nobis, Claudia, Kuhnimhof, Tobias Mobilität in Deutschland - MiD Ergebnisbericht, 2019/02

Auszug aus dem Forschungs-Informations-System (FIS) des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur

https://www.forschungsinformationssystem.de/?196172

Gedruckt am Dienstag, 16. April 2024 14:09:45