Sensorische, kognitive und motorische Veränderungen im Alter
Erstellt am: 13.08.2012 | Stand des Wissens: 01.03.2019
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TU Dresden, Professur für Integrierte Verkehrsplanung und Straßenverkehrstechnik, Prof. Dr.-Ing. Regine Gerike
Die mit zunehmendem Alter einhergehenden Veränderungen, welche die Mobilität und das Mobilitätsverhalten beeinflussen, betreffen vor allem die Sensorik, die kognitive Leistungsfähigkeit und die Motorik.
Durch Anpassungsprozesse, sogenannte Kompensationsstrategien, können etwaige körperliche Defizite (in unterschiedlichem Umfang) ausgeglichen werden. Insgesamt sind 13 Prozent der Gesamtbevölkerung von gesundheitlichen Einschränkungen betroffen - die Hälfte dieser Personengruppe leidet auch an Mobilitätseinschränkungen [Nobi18, S. 99]. Ab dem 70ten Lebensjahr und älter stehen bei zwei Drittel bis drei Viertel der Betroffenen die gesundheitliche Einschränkungen in Zusammenhang mit Mobilitätseinschränkungen [Nobi18, S.100].
Sensorik: Die meisten Informationen im Straßenverkehr werden über das Sehvermögen wahrgenommen. In der Abbildung 1 können zentrale Mobilitätsindikatoren für Senioren mit Mobilitätseinschränkungen durch Sehbehinderungen entnommen werden. Höchste Bedeutung kommt zunächst dem im Alter regelmäßig nachlassenden Sehvermögen zu. [Co08, ADAC13c] beschreibt die visuelle Wahrnehmung als essenzielle Voraussetzung einer sicheren Fortbewegung, sei es als Fußgänger, Zweirad- oder Autofahrer. Deren Abbau setzt allerdings für verschiedene Sehleistungen zu unterschiedlichen Zeitpunkten ein. Bereits relativ früh setzten folgende Verschlechterungen ein:
- Sehen bei Dämmerung und Dunkelheit,
- Sehen bewegter Objekte (dynamische Sehschärfe),
- peripheres Sehen sowie der
- Akkommodationsbreite und -geschwindigkeit (nah/fern),
- Adaptationsfähigkeit des Auges (hell/dunkel; nach Blendung und bei Lichtstreuung),
- Licht- und die Kontrastempfindlichkeit,
- Farbwahrnehmung,
- Tiefenwahrnehmung und
- Useful Field of View (UFOV), das nutzbare Sehfeld.
Untersuchungen zum UFOV zeigen, dass ältere Autofahrer mit schlechten Leistungen im UFOV-Test, eine Prüfung des eingeschränkten Gesichtsfeldes, weniger sorgfältig den toten Winkel überprüfen [Seetal11]. Bei Überhol, Abbiege- und Wendemanövern können beispielsweise entgegenkommende Autos und deren Geschwindigkeit nicht richtig eingeschätzt werden. Das Unfallrisiko steigt [ADAC13c].
Abbildung 1: Zentrale Mobilitätsindikatoren für Senioren mit Mobilitätseinschränkungen durch Sehbehinderung [eigene Darstellung nach Nobi18, S. 102]
Ebenfalls muss bei der sensorischen Wahrnehmung das Hörvermögen betrachtet werden. Eine altersbedingte Schwerhörigkeit beginnt etwa ab 70 Jahren. Die Akustik ist zweitrangig im motorisierten Verkehr, da die Verkehrsregelung nur visuell wahrgenommen werden muss. Schwerhörige Personen können aber das Richtungshören und die Fahrgeräusche des eigenen Pkw nicht richtig wahrnehmen. Die meisten Probleme ergeben sich bei schwerhörigen Fußgängern und Radfahrern beim Annähern und Überqueren von Straßen [ADAC13c]. Zudem entwickelt sich im Alter die Wahrnehmung, Diskrimination und Ortung akustischer Signale ungünstig, die beispielsweise Fußgängern beim Annähern an und Überqueren von Straßen wichtige Verhaltenshinweise geben.
Kognitive Veränderungen: Der menschliche Organismus hat eine begrenzte Kapazität zur Verarbeitung von Umweltreizen zu einem bestimmten Zeitpunkt. Man unterscheidet hier die Fähigkeiten selektive Aufmerksamkeit und geteilte Aufmerksamkeit.
Im Alter verringert sich die Fähigkeit zur selektiven und geteilten Aufmerksamkeit [Us02] sowie für Multitasking, wie sie beim Autofahren gefordert sind. Dies kann gravierende Auswirkungen auf die Belastung und Beanspruchung bis hin zur Überforderung des Fahrzeugführers haben. Die Abgrenzung wichtiger von unwichtigen Hinweisreizen sowie die Zuwendung zu neuen Anforderungen in einer sich dynamisch veränderten Verkehrssituation bereitet Probleme. Vor allem Geschwindigkeiten und Zeiten können falsch eingestuft werden [ADAC13c]. [Anetal05] konnten nachweisen, dass Unfälle älterer Fahrer häufig auf Defizite in der selektiven und geteilten Aufmerksamkeit zurückzuführen sind.
Ältere gesunde Menschen können gut gelernte und häufig ausgeführte sowie stark automatisierte Handlungen ähnlich wie jüngere Menschen ausführen. Probleme bereiten ihnen allerdings komplexe Anforderungen sowie solche, die ein neues oder verändertes Handeln erfordern. Eine verringerte Belastbarkeit und eine verringerte Fähigkeit, sich schnell auf sich wandelnde Situationen einzustellen, führen in einem komplexen und dynamischen Umfeld, wie dem Straßenverkehr, häufiger gerade Senioren an ihre Leistungsgrenzen. Die Folge ist eine Reizüberflutung und daraus resultierende Irritationen [ADAC13c]. Die Untersuchungen belegen, dass Unfälle älterer Fahrer häufig darauf zurückzuführen sind, dass sie meist nur eine Komponente der komplexen Verkehrssituation fokussieren [Van03].
Des Weiteren nimmt die Kapazität von Lang- sowie Kurzzeitgedächtnis mit dem Alter ab. Eine geringe Langzeitgedächtnisspanne geht zudem mit schlechteren Fahrleistungen in Testfahrten einher [Zoetal09]. Außerdem zeigen sich auch in den Bereichen Verarbeitungsgeschwindigkeit, Problemlösung, Reaktionsschnelligkeit, Schätzvermögen von Zeit- und Geschwindigkeit sowie Orientierung Einschränkungen.
Motorische Einschränkungen: Altersbedingte motorische Veränderungen können in folgenden Bereichen auftreten:
- Kraft und Bewegung,
- Geschwindigkeits - Genauigkeitsabgleich,
- Reaktionszeit,
- Bewegungskoordination,
- Ausdauer und
- Beweglichkeit.
Beispielsweise sind 36 Prozent gesundheitlicher Einschränkungen auf eine Gehbehinderung zurückzuführen. Dabei haben davon 27 Prozent der Betroffenen eine Mobilitätseinschränkung [mid17, S.100]. In der Abbildung 2 ist zu erkennen, dass trotz einer durch Gehbehinderung entstandenen Mobilitätseinschränkung 71 Prozent einen Pkw im Haushalt besitzen und sie dadurch auch mehr Kilometer pro Person und Tag zulegen als diejenigen, die keinen Pkw besitzen. Der Modal Split an Wegen für Besitzer eines Pkws oder keines Pkws kann ebenfalls der Abbildung 2 entnommen werden [Nobi18].
Abbildung 2: Zentrale Mobilitätsindikatoren für Senioren mit Mobilitätseinschränkungen durch Gehbehinderung [eigene Darstellung nach Nobi18, S.102]
Hohe Relevanz haben motorische Fertigkeiten für ältere Radfahrer und Fußgänger sowie Nutzer des öffentlichen Verkehrs (ÖV). Die Abnahme der Muskelkraft sowie der körperlichen Beweglichkeit sind durch einen allgemeinen Verlust an Muskelmasse und Veränderungen in der Muskeldichte sowie -konsistenz bedingt [Ri08]. Hinzu kommt eine verringerte Belastbarkeit, schnellere Ermüdbarkeit und langsamere Reaktionsfähigkeit [Sch08]. Ein starker altersbedingter Kraftrückgang der Muskelgruppen der unteren Extremitäten [Ri08] hat besonders für Fußgänger sicherheitsrelevante Auswirkungen. So konnte gezeigt werden, dass ältere Fußgänger signifikant langsamer eine Straße überqueren als jüngere Fußgänger [DoCa11]. Die Beweglichkeit der Hände, Arme sowie Schulterbereich sind von hoher Bedeutung für Lenken und Schalten. Die Mobilität von Füßen, Beine und des Hüftgelenks spielen ebenfalls eine sehr große Rolle beim Betätigen des Gas- und Bremspedals im Kfz [ADAC13c].
Aber auch für Autofahrer haben sensomotorische sowie physiologische Einschränkungen Auswirkungen [Ri08]. Besonders für Autofahrer ist eine ausreichende Beweglichkeit des Hals- und Nackenbereichs sowie der Wirbelsäule relevant, um den sicherheitsrelevanten Schulterblick zu gewährleisten [ADAC13c]. [Maetal] wiesen nach, dass eine eingeschränkte Beweglichkeit des Hals- und Nackenbereichs mit einem zweifach erhöhten Unfallrisiko bei älteren Autofahrern einhergeht. Zudem kann eine Gelenksteife sowie abnehmende Muskelkraft die Lenkrad- und Pedalbedienung erschweren. Die motorischen Fähigkeiten, welche zum Führen eines Fahrzeuges notwendig sind, erfordern überdies Präzision und Koordination, welche nach einem Schlaganfall oder durch Medikamenteneinnahme beeinträchtigt sein können [Bur05].
Kompensationsstrategien: Aus der Altersforschung, entsprechend dem Modell der Selektiven Optimierung mit Kompensation (SOK Modell) [BalBal90] ist bekannt, dass ältere Menschen in der Lage sind, altersbedingte Einschränkungen zu kompensieren. Das Modell postuliert, dass trotz zunehmender Einschränkungen eine positive Entwicklung im Alter durch eine effiziente Nutzung der verbleibenden Ressourcen möglich ist. [Sch94] untersuchte die Leistungsfähigkeit älterer Autofahrer und wies nach, dass sie schlechtere Leistungen in psychophysischen Tests erreichen, aber Fahraufgaben im Realverkehr gleich gut, wie Fahrer aus jüngeren Altersgruppen, ausführen. Im Rahmen einer Mobilitätsberatung sollten diese Selektions-, Optimierungs- und Kompensationsstrategien vordergründig behandelt werden. Kompensationsstrategien sind unter anderem öffentliche und private Verkehrsmittel, Begleitservice oder Fahrdienste [Bart16].