Intramodaler Wettbewerb im Schienengüterverkehr
Erstellt am: 13.09.2002 | Stand des Wissens: 17.06.2020
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Technische Universität Hamburg, Institut für Maritime Logistik, Prof. Dr.-Ing. C. Jahn
Seit Beginn der 1990er Jahre bemüht sich die Europäische Kommission um eine Wiederbelebung des Schienengüterverkehrs (SGV) in Europa. Ein Schwerpunkt der EU-Verkehrspolitik ist es dabei, über die Implementierung eines funktionierenden intramodalen Wettbewerbs die Konkurrenzfähigkeit des Gesamtsystems Eisenbahn im intermodalen Wettbewerb um Marktanteile zu erhöhen. Zuvor waren europäische Eisenbahnunternehmen vor dem Spiel der Marktkräfte weitestgehend geschützt. Ziel war und ist es, die traditionell von Staatsbahnen als Monopolisten dominierten, national abgeschotteten Märkte sowohl für neue Markteinsteiger zu öffnen, als auch die nationalen Märkte zu einem gesamteuropäischen Markt zu integrieren [Mont00, S. 79; EUKOM96, S. 3].
Obwohl die Vorgaben der Richtlinie 91/440/EWG in allen EU-Mitgliedsstaaten sowie in der Schweiz formell umgesetzt wurden und viele Staaten die darüber hinausgehenden Liberalisierungsmaßnahmen der damit verbundenen [nationalen] Richtlinien realisiert haben, waren auf den Eisenbahnmärkten in Europa lange kaum nennenswerte Veränderungen eingetreten. Während laut einer Marktstudie von 2000 zu damaligem Zeitpunkt noch nicht von einem funktionierenden Wettbewerb im SGV gesprochen werden konnte [DVF00, S. 79 ff.], zeigen die jährlichen Studien zur Liberalisierung (sog. Liberalisierungsindex) unter anderem im SGV-Markt, dass sich die Voraussetzungen für neue Eisenbahnverkehrsunternehmen (EVU) in den letzten Jahren zum Teil deutlich verbessert haben und in vielen EU-Staaten (beispielsweise Großbritannien, Schweden und der Bundesrepublik Deutschland) eine Intensivierung des Wettbewerbs zu beobachten ist. Diese Einschätzung bestätigt für den deutschen Markt auch die Monopolkommission, obwohl sie weiterhin "erhebliche Potenziale zur Wettbewerbssteigerung" [HaKo13, S. 117] sieht. Im Vergleich mit einigen europäischen Staaten (zum Beispiel Irland, Luxemburg und Spanien), in denen die Marktanteile neuer EVU weiterhin ausgesprochen gering sind, stellt sich die Situation in Deutschland vergleichsweise positiv dar [HaKo13, S. 116 ff.; IBM11a, S. 8 ff.].
Viele Länder gewähren jedoch inzwischen einen dokumentierten, diskriminierungsfreien Marktzugang. In der Praxis wird dieser jedoch beispielsweise durch teure und zeitaufwändige Zulassungsprozesse oft erschwert [IBM11a, S. 21]. Die Strukturveränderungen der letzten Jahre erweisen sich in vielen Mitgliedstaaten häufig als Etikettenschwindel, da meist nur eine Umbenennung bereits bestehender Institutionen durchgeführt wurde. Gleichzeitig wurden die neu einzurichtenden Regulierungsstellen nicht selten in den Verkehrsministerien der Mitgliedstaaten ohne ausreichende Ausstattung und Kompetenz angesiedelt [IBM11a, S. 17 f.]. Dies belastet den Marktliberalisierungsprozess umso stärker, da der Wettbewerb besonders in der Startphase eine effektive und unabhängige Regulierung benötigt. Weiterhin bestehen technische, rechtliche und organisatorische Hindernisse, welche zusätzlich die ehemaligen Monopolisten begünstigen und Markteintrittsbestrebungen neuer Anbieter behindern [EUKOM01, S. 30]. Diese konzentrieren sich mit ihren Angeboten bislang auf die profitablen und organisatorisch relativ einfach abzuwickelnden Marktsegmente der Ganz- und Blockzüge im konventionellen Wagenladungsverkehr und im Kombinierten Verkehr (KV) [Daub02, S. 70].
Mit Änderung der Richtlinie 91/440/EWG wurde der europäische SGV im Jahr 2007 vollständig geöffnet. Dies schließt Kabotagefahrten, also Transporte im Inland, welche durch ein ausländisches EVU erbracht werden, mit ein. Im Straßengüterverkehr herrscht die Kabotagefreiheit hingegen in fast allen Ländern der EU (Rumänien und Bulgarien seit 2011) schon seit 1998 [EUKOM06h; Heym06a].
In Reaktion auf die neue Konkurrenz ist seitens ehemaliger Staatsbahnen eine verstärkte Bildung von Allianzen zu beobachten. Diese Strategie zielt insbesondere auf einen Aufbau grenzüberschreitender Gütertransportangebote ab, denen hohe Zuwachsraten prognostiziert werden [ITP14a, S. 295 ff.]. Dabei ist der Trend erkennbar, dass die Staatsbahnen im Einzelwagenverkehr (EWV) weiterhin miteinander kooperieren [Mini10b, S. 182]. Im Ganzzugverkehr stehen sie dagegen zunehmend in einem Konkurrenzverhältnis. Diese Situation, in der die Bahnen Partner und Wettbewerber zugleich sind, wird auch als "Coopetition" bezeichnet [Nosb05, S. 15].
Im Vergleich zum deutschen Schienenpersonennahverkehr und insbesondere zum Fernverkehr entwickelte sich der Markt des deutschen SGV besonders dynamisch. Die neuen Anbieter sind dabei überwiegend im Ganzzugbereich und im KV tätig [BAG08a, S. 20; Röss09]. Sie entwickelten sich
- aus existierenden kommunalen und landeseigenen Eisenbahnen (Erweiterung des geografischen Tätigkeitsradius),
- aus mittelständischen Privat- und Werksbahnen (Ausdehnung Aktivitäten auf öffentliche Netze) und
- aus internationalen Konzernen und anderen Staatsbahnen (Erwerb von Beteiligungen, Übernahme gebietsansässiger Unternehmen, Aufbau eigener Verkehrsorganisationen)
Abbildung 1 zeigt die aus Sicht der privaten Wettbewerber positive Entwicklung im SGV. Seit Anfang dieses Jahrhunderts konnten die nicht-bundeseigenen (NE-)Bahnen Marktanteile gewinnen und diese bis 2016 auf 40,9 Prozent (etwa 47,5 Milliarden Tonnenkilometer) ausbauen [MoNeVe17, S. 112]. Im Zeitraum vor 2008, bis zur wirtschaftskrisenbedingten Unterbrechung des Verkehrswachstums, steigerte auch die DB Schenker Rail Deutschland AG ihre Verkehrsleistung deutlich. So lag hier keineswegs nur eine reine Verschiebung des Verkehrsvolumens zu anderen Unternehmen vor. Vielmehr konnte die Gesamtleistung des SGV gesteigert werden. Nach 2008 zeichnet sich eine interessante Entwicklung ab, in der der Deutsche Bahn AG Konzern (DB AG) im Zuge der Wirtschaftskrise deutlich verloren hat, während seine Mitbewerber das Niveau ihrer Verkehrsleistung weitgehend halten konnten. [HoBe11, S. 91; NEEMo13, S. 49]
Im Gegenzug zur Aktivität ausländischer Staatsunternehmen in Deutschland, ist die DB AG über ihre Tochtergesellschaften durch Beteiligungen und Übernahmen beispielsweise in Italien, Dänemark, den Niederlanden, Großbritannien, Polen oder auch der Schweizin aktiv.
Die Mehrheit der großen staatlichen Güterbahnen in Europa fährt seit Jahren Verluste ein. Wegen ihrer staatlichen Eigentümer sind sie jedoch - im Gegensatz zu den privaten Bahnen - weitestgehend davor geschützt, in Konkurs zu gehen. Dies macht sie gegenüber Banken kreditwürdiger. Bei dem Versuch, Kunden auch in konjunkturellen Krisen um jeden Preis zu halten, haben die Privaten "den damit verbundenen Preisattacken der Staatsbahnen [...] kaum noch etwas entgegenzusetzen. Dementsprechend sind Martkanteils(rück)verlagerungen wahrscheinlich" [Röss09, S. 584 ff.]. Dieser Effekt kann derzeit im EWV wahrgenommen werden: Private Bahnen haben sich dort aufgrund der geringen Gewinnmargen weitgehend aus dem Wettbewerb zurückgezogen [Vogt12, S. 25 ff.].