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Geschwindigkeitsniveau (Verkehrsberuhigung im Stadtverkehr)

Erstellt am: 28.04.2004 | Stand des Wissens: 13.09.2023
Synthesebericht gehört zu:
Ansprechpartner
Institut für Mobilitäts- und Stadtplanung, Universität Duisburg-Essen, Prof. Dr.-Ing. Dirk Wittowsky
TU Dresden, Professur für Integrierte Verkehrsplanung und Straßenverkehrstechnik, Prof. Dr.-Ing. Regine Gerike

Die nach Straßenverkehrsordnung (StVO) innerorts übliche Geschwindigkeitsbegrenzung für den Kfz-Verkehr liegt bei 50 km/h. Durch verkehrsberuhigende Maßnahmen kann diese auf 30 km/h (Tempo-30-Zone), 20 km/h (Verkehrsberuhigter Geschäftsbereich), Schrittgeschwindigkeit (Verkehrsberuhigter Bereich) reduziert werden.
Eine solche Reduzierung der Regelgeschwindigkeit hat entgegen vielen Annahmen keine signifikanten Auswirkungen auf die Leistungsfähigkeit eines Verkehrsnetzes. Das Umweltbundeamt hat in einer Meta-Studie zu Tempo-30 an Hauptverkehrsstraßen festgestellt, dass eine Anpassung der Regelgeschwindigkeit auch an den Hauptverkehrsadern der Innenstädte wenig Einfluss auf ihre Leistungsfähigkeit hat. Andere Faktoren wie die Qualität der Lichtsignalanlagen, die Anzahl querender Fußgänger oder Bushalte, Parkvorgänge oder Halten in der zweiten Reihe haben in der Regel einen größeren Einfluss [UBA16j].
Eine weitere Wirkung, die in der Veröffentlichung des UBA analysiert wurde, ist die tatsächliche Auswirkung auf die gefahrenen Geschwindigkeiten in Bereichen mit angepassten Regelgeschwindigkeiten. Es lässt sich feststellen, dass die durchschnittliche Geschwindigkeit nach der Einführung von Tempo 30 nur sehr langsam sinkt. So brauchen die Nutzenden des verkehrsberuhigten Bereichs mehr als zwei Jahre um sich an die neue Regelgeschwindigkeit anzupassen [UBA16j]. Dieser Prozess kann durch Kontrolle der neuen Regelungen beschleunigt werden. Nach Ablauf der Eingewöhnungszeit zeigen sich deutlich niedrigere durchschnittliche Geschwindigkeiten. Neben der Anpassung des durchschnittlichen Geschwindigkeitsniveaus sinkt vor allem auch die Häufigkeit der hohen Geschwindigkeiten. Die vierspurige Rheinstraße in Mainz, die auf der Tempo 30 (nachts) neu angeordnet wurde zeigt: "Deutlicher [als die durchschnittlichen Geschwindigkeiten] sind vor allem die hohen Geschwindigkeiten gesunken. Während bei Tempo 50 rund ein Drittel der Fahrzeuge schneller als 50 km/h fuhr, waren es bei Tempo 30 nur noch 6 % [UBA16j].
Aus Reduktion des Geschwindigkeitsniveaus resultieren überwiegend positive Effekte für die Verkehrssicherheit, insbesondere für Kinder, zu Fuß Gehende und Fahrradfahrende, die als Verkehrsteilnehmende am stärksten gefährdet sind. Sowohl die Anzahl der Unfälle als auch die Schwere der Verletzungen werden durch geringere Geschwindigkeiten des fließenden Verkehrs gesenkt. Hauptgrund dafür ist, dass sowohl der Bremsweg als auch die Aufprallenergie eines Fahrzeugs bei einem Unfall mit dem Quadrat der Geschwindigkeit zunehmen.
Analysen des Unfallgeschehens in flächenhaft beruhigten Bereichen [DiFu23; UBA16j] ließen erkennen, dass die Verbesserungen der Verkehrssicherheit nicht nur in den verkehrsberuhigten Bereichen selbst wirken, sondern auch auf die angrenzenden Bereiche, also Wohngebiete ohne bzw. nur mit punktuellen verkehrsberuhigenden Maßnahmen sowie Hauptverkehrsstraßen ausstrahlen. Beispielstudien aus Berlin und Schwerin zeigen, dass eine Reduzierung der Regelgeschwindigkeit auf 30 km/h die Anzahl und schwere von Unfällen auf diesen Straßen reduziert [UBA16j].
Geschw_Temp30.jpgAbb. 2: Mittlere Kfz-Geschwindigkeiten vor und nach Tempo-30-Anordnungen an den 19 untersuchten Streckenabschnitten in Berlin [UBA16j]
Weiterhin führt die Reduktion der Fahrzeuggeschwindigkeiten durch verkehrsberuhigende Maßnahmen zu einer Verringerung von Luftschadstoffemissionen. Zu den genauen Abhängigkeiten zwischen Geschwindigkeitsniveaus und Luftschadstoffen, bestehen noch sehr wenige Untersuchungen. Nachweisbar ist jedoch die Verringerung der Emission von Stickoxiden (NOX). Die Emissionen von Kohlenmonoxiden (CO) und Kohlenwasserstoffen (HC) scheinen nicht direkt von der Fahrzeuggeschwindigkeit abzuhängen, sondern vielmehr vom Fahrverlauf (Verkehrsfluss) [bast10b; UBA16j]. Verkehrsregelungen die weitere Brems- und Beschleunigungsvorgänge verursachen können die Abgasemissionen signifikant erhöhen [UBA16j].
Emissionen_Tempo30.jpgAbb. 1: Einfluss der Geschwindigkeit auf Schadstoffemissionen an Berliner Hauptverkehrsstraßen [UBA16j]
Aus diesem Grund sollten zur Reduktion von Luftschadstoffen vielmehr eine Verstetigung des Geschwindigkeitsverlaufes über die Strecke angestrebt werden [bast10b]. Daraus folgt auch der Anspruch der flächendeckenden Verkehrsberuhigung. Allerdings lässt sich dafür auch eine lineare Verkehrsberuhigung nutzen.
Die Lärmemissionen können prinzipiell durch Verkehrsberuhigung gesenkt werden. Hauptgrund hierfür ist, dass bei niedrigeren Fahrzeuggeschwindigkeiten die Roll- und Motorgeräusche abnehmen.
Die Meta-Studie zu Wirkungen von Tempo 30 Zonen an Hauptverkehrsstraßen [UBA16j] stellt fest, dass sowohl der Lautstärke-Mittelungs- als auch Maximalpegel in der Regel bei Einführung einer Tempo 30 Zone deutlich sinkt. Bei einer Reduktion von Tempo 50 auf Tempo 30 sei eine Differenz von circa 2-3 dB(A) messbar. Die allerdings nur noch selten publizierte Meinung, dass Pegeldifferenzen erst ab 3 dB(A) wahrnehmbar seien, ist bereits seit langem widerlegt. [UBA16j].
Im Zusammenhang mit baulichen Verkehrsberuhigungsmaßnahmen werden von Seiten der Anwohner häufig Aufpflasterungen vorgeschlagen, die aufgrund der Oberflächenbeschaffenheit sowie durch Brems- und Beschleunigungsvorgänge teilweise hohe Geräuschpegel entstehen lassen.
Allerdings können die durch Verkehrsberuhigungsmaßnahmen erzielbaren Lärmreduzierungen dann merklich reduziert werden, wenn die Verkehrsbelastung und der Lkw-Anteil nennenswert verringert werden.
Ein Zielkonflikt, der sich durch Verkehrsberuhigende Maßnahmen ergeben kann, ist die Behinderung des Eintreffens der Einsatzkräfte (Rettungswagen, Feuerwehr und Polizei). Einerseits kann die Verlängerung der Anfahrt durch Umwege (z. B. durch Quer- oder Diagonalsperren) hervorgerufen werden, andererseits werden auch die Fahrzeuge der Notfalldienste durch Aufpflasterungen, Schwellen oder ähnliche bauliche Verkehrsberuhigungsmaßnahmen gezwungen, ihre Geschwindigkeit signifikant zu verringern [Leven03]. Anzumerken ist, dass gemessen an der gesamten Anfahrtsstrecke die Zeitverluste für Streckenlängen von weniger als 1-2 km in der Regel unter 1 bis 2 Minuten liegen dürften.
Für den Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) kann es durch geschwindigkeitsreduzierende Maßnahmen ebenfalls zu Fahrtzeitverlängerungen kommen. Grund hierfür sind neben der Reduzierung der Fahrzeuggeschwindigkeit vor allem die Vorfahrtsregelungen (insbesondere Rechts-Vor-Links).
Die Wirkungen von Verkehrsberuhigung auf Geschwindigkeitsniveaus tragen dazu bei, die Nutzung des ÖV sowie aktiver Mobilitätsformen attraktiver zu machen. Eine höhere Verkehrssicherheit, sowie niedrigere Emissions-/ Lärmbelastung bieten vor allem der aktiven Mobilität mehr Raum. Dies erhöht auch die allgemeine Gesundheit in den umgestalteten Bereichen.
Ansprechpartner
Institut für Mobilitäts- und Stadtplanung, Universität Duisburg-Essen, Prof. Dr.-Ing. Dirk Wittowsky
Zugehörige Wissenslandkarte(n)
Verkehrsberuhigung im Stadtverkehr (Stand des Wissens: 13.09.2023)
https://www.forschungsinformationssystem.de/?358449
Literatur
[bast10b] Bundesanstalt für Straßenwesen Einfluss von verkehrsberuhigenden Maßnahmen auf die PM10-Belastung an Straßen, Wirtschaftsverlage NM / Bremerhaveb, 2010/01, ISBN/ISSN 978-3-86509-985-3
[DiFu23] Bauer, Uta, Bettge, Sonja, Stein, Thomas Verkehrsberuhigung: Entlastung statt Kollaps!, 2023/07, ISBN/ISSN 2941-6124
[Leven03] Leven, Franz-Josef , Schaal, Michael Verkehrsberuhigung und Rettungsdienst, veröffentlicht in Zeitschrift für Verkehrswissenschaft, Ausgabe/Auflage 3, 1993
[UBA16j] Heinrichs, Eckhardt, Scharbarth, Frank, Sommer, Karsten Wirkungen von Tempo 30 an Hauptverkehrsstraßen, 2016, ISBN/ISSN 2363-832X
Glossar
Lkw Lastkraftwagen (Lkw) sind Kraftfahrzeuge, die laut Richtlinie 1997/27/EG überwiegend oder sogar ausschließlich für die Beförderung von Gütern und Waren bestimmt sind. Oftmals handelt es sich dabei um Fahrzeuge mit einer zulässigen Gesamtmasse zwischen 3,5 und 12 Tonnen. In Einzelfällen kann die zulässige Gesamtmasse diese Werte jedoch auch unter- beziehungsweise überschreiten, sofern das Kriterium der Güterbeförderung gegeben ist. Lastkraftwagen können auch einen Anhänger ziehen.
ÖV
Der öffentliche Verkehr (ÖV) ist sowohl im Personen-, Güter- sowie Nachrichtenverkehr für jeden Nutzer in einer Volkswirtschaft öffentlich zugänglich. Dazu zählen sowohl die öffentliche Personenbeförderung, der öffentliche Gütertransport als auch die öffentlichen Telekommunikations- und Postdienste. Der ÖV wird dabei von Verkehrsunternehmen nach festgelegten Routen, Preisen und Zeiten durchgeführt. Der ÖV ist somit im Gegensatz zum Individualverkehr (IV) örtlich und zeitlich gebunden.
Vor dem Hintergrund der verkehrspolitisch geförderten Multimodalität wird der ÖV zunehmend breiter definiert, indem auch alternative Bedienformen, Taxen bis hin zu öffentlichen Fahrrädern und öffentlichen Autos als Teil eines neuen individualisierten ÖV gesehen werden.
Verkehrsfluss
Unter Verkehrsfluss versteht man die Anzahl der Fahrzeuge, die eine vordefinierte Verkehrs(quer)fläche pro Zeiteinheit durchfährt.
Öffentlicher Personennahverkehr
Der öffentliche Personennahverkehr ist juristisch im Personenbeförderungsgesetz (PBefG) definiert. Laut Paragraf 8, Absatz 1 und 2 umfasst der ÖPNV "die allgemein zugängliche Beförderung von Personen mit Straßenbahnen, Obussen und Kraftfahrzeugen im Linienverkehr, die überwiegend dazu bestimmt sind, die Verkehrsnachfrage im Stadt-, Vorort- oder Regionalverkehr zu befriedigen". Taxen oder Mietwagen können dieses Angebot ersetzten, ergänzen oder verdichten.
Der Begriff ÖPNV bezieht sich in der Regel auf Strecken mit einer gesamten Reiseweite von weniger als 50 Kilometern oder einer gesamten Reisezeit von weniger als einer Stunde. Das in einer Stadt oder Region erforderliche Nahverkehrsangebot und dessen Eignung hinsichtlich Nachhaltigkeit und Klimaschutz wird in einem Nahverkehrsplan definiert und festgehalten.
NOx
= Stickoxide. Ist die Sammelbezeichnung für die Oxide des Stickstoffs. Die wichtigsten Stickoxide sind Stickstoffmonoxid und Stickstoffdioxid. Es sind gasförmige Verbindungen, die sich nur wenig in Wasser lösen.
Die wichtigsten Stickoxid-Quellen sind natürliche Vorgänge, wie zum Beispiel mikrobiologische Umsetzungen im Boden, sowie Verbrennungsvorgänge bei Kraftwerken, Kraftfahrzeugen und industrielle Hochtemperaturprozesse, bei denen aus dem Sauerstoff und Stickstoff der Luft Stickoxide entstehen. Stickstoffdioxid ist ein Reizstoff, der die Schleimhäute von Augen, Nase, Rachen und des Atmungstraktes beeinträchtigt.
StVO Die Straßenverkehrsordnung  legt Regeln für sämtliche Straßenverkehrsteilnehmer fest und bildet somit eine Rechtsverordnung der Bundesrepublik Deutschland.
dB(A) Messgröße des A-bewerteten Schalldruckpegels zur Bestimmung von Geräuschpegeln. Die dB-Skala ist logarithmisch aufgebaut, d. h. eine Verdoppelung der Lärmintensität führt zu einer Erhöhung um 3 dB. Das menschliche Ohr empfindet eine Erhöhung um 10 dB als Verdoppelung der Lautstärke. Hierzu ist eine Schallintensitätsverzehnfachung erforderlich. Der Zusatz "(A)" gibt an, dass dem betreffenden Messergebnis die standardisierte A-Berwertungskurve zugrunde liegt. Sie berücksichtigt einen nichtlinearen frequenz- und pegelabhängigen Zusammenhang zwischen subjektiv wahrgenommenem Läutstärkepegel und vorliegendem Schalldruckpegel. So empfindet das menschliche Gehör bspw. mittlere Frequenzen im Vergleich zu niedrigen Frequenzgängen als wesentlich lauter, weshalb die Einheit dB(A) entsprechende Tonhöhen stärker gewichtet. Ein gesundes Ohr kann bereits einen Schalldruck von 0 dB (A) wahrnehmen (Hörschwelle), bei Werten über 120 dB (A) wird die Geräuschbelastung unerträglich laut (Schmerzgrenze). Eine Langzeiteinwirkung von über 85 dB(A) zieht u. U. dauerhafte Gehörschäden nach sich.
UBA Umweltbundesamt

Auszug aus dem Forschungs-Informations-System (FIS) des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur

https://www.forschungsinformationssystem.de/?83546

Gedruckt am Donnerstag, 18. April 2024 23:41:05