Der Markt des Schienengüterverkehrs
Erstellt am: 04.09.2002 | Stand des Wissens: 12.03.2019
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Technische Universität Hamburg, Institut für Maritime Logistik, Prof. Dr.-Ing. C. Jahn
Für die Entwicklung des europäischen Schienengüterverkehrsmarktes ergibt sich über die vergangenen Jahrzehnte ein ambivalentes Bild. Einerseits konnten Verkehrsaufkommen und -leistung zwischen 1960 und 2016 zum Teil stark gesteigert werden. Dabei verdoppelte sich beispielsweise in der Bundesrepublik Deutschland die Verkehrsleistung im Schienengüterverkehr (SGV) von 53 Millionen Tonnenkilometern auf 116 Millionen Tonnenkilometern (Abbildung 1, Daten bis 2012) [DIW77, S. 166; StBu19a].
Andererseits haben europäische Bahnen trotzdem im selben Zeitraum Marktanteile an den Straßengüterverkehr verloren. Zwischen 1970 und 2015 halbierte sich deren verkehrsleistungsbezogener Modal Split-Anteil von 21,1 Prozent auf 11,9 Prozent [EUKOM01, S. 29; EUKOM17, S. 36]. Für den Anteil des SGV in Deutschland ergibt sich zwischen 1960 und 2018 ein entsprechender Verlust im Anteil an der Gesamtverkehrsleistung von ursprünglich 37 Prozent auf 18,5 Prozent (Abbildung 1). Insgesamt blieb der Anteil des Schienengüterverkehrs in Deutschland über die letzten Jahre in etwa bei Neun Prozent [DIW77, S. 166; BMVI18s, S. 247, Stat19w].
Die Ursachen für diese Entwicklung der Wettbewerbssituation sind vielschichtig. Das Güterverkehrsaufkommen erlebte seit den 1960er Jahren einen enormen Zuwachs bei gleichzeitig wachsenden Transportentfernungen, wovon auch die Eisenbahn profitieren konnte. Gleichzeitig änderte sich allerdings die Güterstruktur: so führten umfangreiche strukturelle Veränderungen in der europäischen Wirtschaft zum Wegfall zahlreicher Massengutverkehre, während der Bedarf zur Beförderung hochwertiger Stückgüter wuchs. Das Angebot des Lkw konnte sich dabei den neuen Erfordernissen des Güter-, Logistik- und Siedlungsstruktureffekts besser anpassen als der SGV; der Liberalisierungsvorsprung des Straßengüterverkehrs bewirkte zudem einen deutlichen Preisverfall. [Bern01, S. 72 ff.; BAG05, S. 1] Verlader kritisieren vor allem die nicht ausreichende Zuverlässigkeit gekoppelt mit einem schlechten Informationsmanagement im SGV [EUKOM01c, S. 12 ff.].
Darüber hinaus sind die eisenbahntypischen Produktkategorien verglichen mit straßenseitigen Güterbeförderungsangeboten durch eine geringere Flexibilität gekennzeichnet. So lässt sich speziell im Ganzzugverkehr der systemspezifisch erforderliche lange Planungsvorlauf, welcher beispielsweise notwendige Trassenbestellungen sowie die Fahrzeugdisposition umfasst, oftmals nicht mit bestehenden Marktanforderungen vereinbaren. "Die Kunden fordern ein offenes System, denn sie müssen sehr kurzfristig auf Veränderungen in der Nachfrage oder der Beschaffungsmärkte reagieren." [NiPa09, S. 8] In Kombination mit beträchtlichen unterjährigen Transportbedarfsschwankungen, welche periodisch unter anderem durch die Hauptferienzeiten hervorgerufen werden, ergibt sich wiederholt die Notwendigkeit zur kurzfristigen Abbestellung von bereits vorgehaltenen Kapazitäten beziehungsweise zum Einsatz zusätzlicher Züge. Hieraus im Hinblick auf die Qualität und die Wirtschaftlichkeit der SGV-Leistung resultierende Einbußen erweisen sich für die betreffenden Verlader nicht in allen Fällen als tolerierbar. [NiPa09, S. 6 ff.]
Neben den betrieblich bedingten Defiziten bei der Flexibilität behindert insbesondere die vorhandene Infrastruktur einen stärkeren Zuwachs des Verkehrsaufkommens im SGV. Eine im direkten Vergleich zur Straße geringe Netzdichte schränkt die realisierbaren Transportrelationen ein. Insbesondere neu errichtete Industriestandorte verfügen häufig über keinen eigenen Gleisanschluss, sodass die Eisenbahn hier als alleiniges Beförderungsmittel von vornherein ausscheidet. Die durchschnittliche Transportweite europäischer Bahnen erweist sich verglichen mit denen auf anderen Kontinenten als gering. Dies steht im starken Kontrast zu den Systemstärken der Bahn, welche sich insbesondere durch ihre Massenleistungsfähigkeit über große Distanzen auszeichnen. Diese Umstände wirken sich negativ auf die Wettbewerbsfähigkeit des SGV aus.
Die dargestellte Situation war vor dem Hintergrund ökologischer Aspekte sowie einer wachsenden Bedeutung internationaler Transporte der Ansatzpunkt der Europäischen Kommission bei ihrem Anfang der 1990er Jahre initiierten Versuch, den SGV zu revitalisieren. Neben einer allgemeinen Förderung des intermodalen Wettbewerbs zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit des Gesamtsystems Schiene wurde insbesondere ein Netz für den SGV in der Europäischen Union definiert. In ihren Weißbüchern für die europäische Verkehrspolitik hat die Europäische Kommissin unter anderem festgeschrieben, dass auch neuen Marktteilnehmern der Zugang zum Schienennetz diskriminierungsfrei gewährt werden muss. [EUKOM01; EUKo11]
Bei der Schaffung eines funktionierenden intramodalen Wettbewerbs sind die Zielvorstellungen und die Umsetzungen in den EU-Mitgliedsstaaten sehr unterschiedlich, so dass auch bei den nationalen Verkehren noch immer nicht von Wettbewerb in allen Bereichen gesprochen werden kann [IBM11a]. Dieser beschränkt sich zudem zumeist auf die verhältnismäßig leicht organisierbaren Marktsegmente Ganz- und Blockzüge, in denen sowohl Speditionen ohne eigenes Rollmaterial als auch große Unternehmen mit Schienentransporten in Eigenregie aktiv geworden sind. Der Bereich des komplexeren Einzelwagenverkehrs, bei dem einzelne Wagen oder Wagengruppen verschiedener Versender über mehrere Bündelungspunkte zu überregionalen Zügen zusammengestellt werden, bevor sie auf ebenso aufwendige Weise zu den Empfängern gelangen, ist weiterhin fast ausschließlich in Hand der ehemaligen Staatsbahn [BNetzA12, S. 19]. Der für dieses System notwendige Ressourcenaufwand stellt eine hohe Markteintrittshürde dar. Zudem sind die Gewinnmargen sehr gering. In einigen Ländern wurde der Einzelwagenverkehr aufgrund seiner hohen Kosten bereits reduziert oder insgesamt eingestellt. [DBAG14b, S. 17 ff.; DBAG07g, S. 11]