Einsatz von Entgleisungsdetektoren im Schienengüterverkehr
Erstellt am: 25.11.2003 | Stand des Wissens: 22.03.2024
Synthesebericht gehört zu:
Ansprechperson
IKEM - Institut für Klimaschutz, Energie und Mobilität e.V.
Karlsruher Institut für Technologie (KIT), Institut für Volkswirtschaftslehre (ECON), Prof. Dr. Kay Mitusch
Zugentgleisungen machen einen erheblichen Anteil der Unfälle im Eisenbahnverkehr aus. Entgleiste Güterzüge können je nach Rahmenbedingungen noch mehrere Kilometer zurücklegen, bevor die Entgleisung vom Triebfahrzeugführer bemerkt wird. Neben der massiven Beschädigung des Oberbaus erhöht sich mit der Dauer des Mitschleppens eines havarierten Fahrzeugs zugleich die Gefahr einer Kollision mit Infrastruktureinrichtungen (zum Beispiel Signale, Bahnsteige, Brückenpfeiler, Tunnelportale) oder gar dem Gegenverkehr. Darüber hinaus besteht das Risiko herabstürzender Brücken oder Dämme [HeSc01, S. 279 f.]. Daher kommt der Früherkennung von Entgleisungen im Zugverband eine besonders große Bedeutung zu [Ross11a, S. 10 ff.].
Instrumente zur Entgleisungsdetektion haben das Ziel, das potentielle Schadensausmaß so gering wie möglich zu halten [Boss13, S. 22 f.]. Dabei wird grundsätzlich zwischen zwei Vorgehensweisen unterschieden: Entweder greift nach der Detektion einer Entgleisung ein Mechanismus automatisch in die Hauptluftleitung des Zuges ein und löst eine Notbremsung aus, oder das System löst einen für den Triebfahrzeugführer wahrnehmbaren Alarm aus. Momentan sind auf dem Markt nur Entgleisungsdetektoren der ersten Art verfügbar. Beispielhaft kann hierfür der weit verbreitete Entgleisungsdetektor EDT101 (Abbildung 1) der Knorr-Bremse AG genannt werden. Die European Railway Agency (ERA) hat allerdings beide Systemtypen untersucht und für beide sowohl Vorteile wie auch Nachteile konstatiert. [ERA12, S. 39 ff.]
Die passive Entgleisungssicherheit kann mit Hilfe von Entgleisungsdetektoren und in Verbindung mit Telematik wesentlich erhöht werden. Vom damaligen Verkehrsministerium (BMVBS, heute BMDV) geförderte Entgleisungsversuche zeigten zum einen die Zuverlässigkeit bestehender Telematiksysteme und ließen Rückschlüsse auf die technisch und wirtschaftlich am besten geeigneten Messpunkte am Fahrzeug zu [Hech01, S. 295]. Entgleisungen können inzwischen bei Geschwindigkeiten bis zu 120 km/h sicher detektiert werden [Kell03, S. 12]. Im Oktober 2007 konnte die Funktionstauglichkeit einer neuen Generation von fahrzeugseitigen Detektoren, (EDT101) der Firma Knorr-Bremse, in Kooperation mit der TU Berlin in Versuchen nachgewiesen werden [Knorr08, S. 75].
Abb. 1: Pneumatischer Entgleisungsdetektor EDT 101 (Quelle: TU Berlin, Fachgebiet Schienenfahrzeuge, Dipl.-Ing. D. Luther), Grafik zum Vergrößern bitte anklicken
Dem Schweizer Bundesamt für Verkehr (BAV) zufolge kam eine Untersuchung über den Einsatz von Entgleisungsdetektoren bei Kesselwagen zu dem Ergebnis, dass etwa 40 Prozent der Entgleisungen zwischen 1976 und 1996, bei denen Flüssigkeiten aus Waggons ausgetreten waren, durch den Einsatz von Detektoren hätten verhindert werden können. Die Schweizer Bundesbahnen (SBB) haben sich daher dazu verpflichtet, Chlorkesselwagen mit derartigen Geräten auszurüsten [BAV02b, S. 2 ff.]. Zudem ergab die Risikoanalyse, die für das Schweizer Schienennetz durchgeführt wurde, dass 80 Prozent der Unfälle, bei denen es zu einer Freisetzung von Gefahrgut gekommen war, auf Entgleisungen zurückzuführen waren. In wiederum 40 Prozent der Fälle bemerkte der Lokführer die Entgleisung zunächst nicht [Knorr08, S. 75]. In der Schweiz wurden seit Herbst 2002 schrittweise 623 private Kesselwagen mit Entgleisungsdetektoren der Oerlikon-Knorr Eisenbahntechnik AG ausgestattet [BuWa08, S. 28].
Der Abschlussbericht der deutschen Arbeitsgruppe "Tank- und Fahrzeugtechnik" kommt allerdings zu dem Schluss, dass dieses bei den SBB getestete System nicht zielführend ist. Die alleinige Verwendung von dynamischen, automatisch wirkenden Entgleisungsdetektoren stünde angesichts der Kosten von je 2.500 EUR in keinem Verhältnis zum Sicherheitsgewinn. Diese Einschätzung wird von der European Railway Agency (ERA) im Rahmen ihres Abschlussberichts zu Entgleisungsdetektoren bestätigt [ERA09b, S. 79]. So habe beispielsweise der Lokführer keine Möglichkeit, auf die Zwangsbremsung Einfluss zu nehmen und damit den Zug an einer für die Hilfskräfte gut zugänglichen Stelle, vor allem außerhalb von Tunneln und abseits von Brücken, zum Stehen zu bringen [Ross11a, S. 10 ff.]. Favorisiert wird von der Arbeitsgruppe stattdessen der Einsatz elektronischer Entgleisungsdetektoren mit einer kombinierten Telematik-/Zugbus-Einrichtung [BMVBS02, S. 11 f.].
In Österreich wurde neben den fahrzeugseitigen Sensoren ein Prototyp für einen infrastrukturseitig installierten Entgleisungsdetektor entwickelt. Das vom Österreichischen Bundesministerium für Verkehr, Innovation und Technologie (BMVIT) geförderte Projekt entwarf einen kostengünstigen Detektionsmechanismus, der bei der Verformung eines im Gleis angebrachten Querbalkens einen Schalter auslöst. Das System soll in seiner endgültigen Form äußerst zuverlässig und durch eine robuste Konstruktion mit vergleichsweise geringen Wartungskosten verbunden sein. [ETR05, S. 738]
Eine Verpflichtung zur Einführung von Entgleisungsdetektoren in die europäischen Regelwerke wurde auch vom RID-Ausschuss der bei der Organisation intergouvernementale pour les transports internationaux ferroviaires (OTIF, dt. "Zwischenstaatliche Organisation für den internationalen Eisenbahnverkehr") empfohlen; über diese Regelung konnte jedoch bislang kein Konsens hergestellt werden [RoPe09; OTIF12, S. 2 ff.; OTIF14]. Auch der Deutsche Bahn Konzern lehnt einen Einsatz von Entgleisungsdetektoren seit geraumer Zeit ab. Zur sicheren Vermeidung von Entgleisungen, so das Argument, benötige man eine Technologie, die die zu entsprechenden Ereignissen führenden Parameter im Wagen bereits im Vorfeld zuverlässig erkenne [ERI09, S. 493].