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Vor- und Nachteile integraler Taktfahrpläne

Erstellt am: 29.07.2021 | Stand des Wissens: 29.07.2021
Synthesebericht gehört zu:

In der Schweiz wurde nach Einführung des flächendeckenden integralen Taktfahrplans (ITF) im Rahmen des Bahn 2000-Infrastrukturprogramms eine deutlich höhere Personenverkehrsleistung im Schienenverkehr beobachtet. Von 1995 bis 2005 stiegen die Fahrgastzahlen im schweizer Schienenpersonenverkehr um circa 34 Prozent von 297 auf 401 Millionen. [BFS19]
Im deutschen Schienenverkehr soll laut Koalitionsvertrag der Bundesregierung von 2018 auf Grundlage eines ITF bis 2030 eine Verdopplung der Fahrgastzahlen erreicht werden. [Bund18, S.77] Nach einer für das Bundesverkehrsministerium erstellten Machbarkeitsstudie für die Umsetzung eines ITF in Deutschland soll das Fahrplankonzept zusammen mit zahlreichen Infrastrukturmaßnahmen zu einer zusätzlichen Nachfrage von 9,3 Millionen bis 12,0 Millionen Fahrten pro Jahr führen. [BMVI15x, S.67]
Das im Rahmen der Umsetzung eines ITF einzusetzende Prinzip der fahrplanbasierten Infrastrukturplanung, bei der Infrastrukturmaßnahmen ganzheitlich auf Basis eines langfristigen Zielfahrplans geplant werden, kann zu einer effizienten Identifizierung und Beseitigung von Netzengpässen beitragen und somit den Schienenverkehr insgesamt verbessern. [Enge12] Neben der durch den Infrastrukturausbau generell erhöhten Kapazität und Reisegeschwindigkeit können verschiedene weitere Vorteile eines ITF zu einer erhöhten Verkehrsnachfrage beitragen. Hierzu zählen die mit den regelmäßigen Abfahrtszeiten vereinfachte Reiseplanung sowie die Senkung der Wartezeiten in Bahnhöfen. Die regelmäßigeren Abläufe im Betriebsablauf eines ITF können zudem helfen, die Verlässlichkeit (Pünktlichkeit) des Systems und damit die Attraktivität des Schienenverkehrs zu erhöhen. [BMVI15x, S.65]
Da Verbindungen mit Umstiegen im Rahmen eines ITF grundsätzlich besser werden, kann dies zusätzliche Nachfrage auf vielen solchen Relationen generieren. Auf der anderen Seite erhöhen sich die Reisezeiten für durchfahrende Fahrgäste, da die für das gleichzeitige Umsteigen notwendige erhöhte Standzeit in den Bahnhöfen die Fahrzeit besonders für Relationen mit vielen Zwischenhalten verlängert. In den Fahrplänen der Machbarkeitsstudie Deutschland-Takt verlängert sich die Fahrzeit der Relation München - Düsseldorf allerdings nur um elf Minuten beziehungsweise 3,6 Prozent. [BMVI15x, S.69]

Ein Nachteil eines ITF ist, dass im Vergleich zum nachfrageorientierten Fahrplan auf längeren Strecken tendenziell häufiger umgestiegen werden muss, weil der Fahrplan ganzheitlich auf Umsteigeverbindungen optimiert wird. Es steigt also tendenziell der Anteil der Relationen, auf denen überhaupt umgestiegen werden muss, und die durchschnittliche Umsteigehäufigkeit nimmt zu. Dies ist bedenklich, weil jedes Umsteigen die wahrgenommene Reisequalität nicht nur aufgrund des Zeitverlusts, sondern auch wegen der damit verbundenen Unannehmlichkeiten mindert. [BVU10] Zwar erreichen in der Schweiz deutlich mehr Fahrgäste (circa 60 Prozent) ihr Ziel mit einer Direktverbindung als in Deutschland (circa 30 Prozent). [ShLe13, S.34] Dies ist aber eher mit den kompakteren Randmaßen und den dadurch bedingten niedrigeren Reiseweiten in der Schweiz zu erklären.
Das Verhältnis eines ITF zur Pünktlichkeit ist ambivalent. Durch das feste Planungsraster für die Trassen und insbesondere durch die darauf ausgerichteten Infrastrukturausbaumaßnahmen wird die Pünktlichkeit zunehmen. Andererseits ist ein ITF besonders empfindlich gegenüber Unpünktlichkeiten. Wenn ein Zug sich verspätet, werden die anderen Züge im nächsten Knoten nicht warten können. In der Folge könnte dieser Zug für den ganzen weiteren Verlauf aus dem Takt ausgekoppelt sein. Andererseits kann es auch sein, dass ein aus dem Takt gefallener Zug recht rasch wieder in den Takt eingefügt werden kann, wenn die Infrastruktur nach dem Durchlaufen einer Welle leer ist und ein zügiges Aufholen erlaubt. Ob sie leer ist, hängt von den eingepassten Betriebsprogrammen für nachgeordnete Züge des Personennahverkehrs und für Züge des Schienengüterverkehrs ab. Auf stark befahrenen Mischverkehrstrecken wird es schwierig sein, einen verspäteten Zug zu beschleunigen. Zudem haben schwere und langandauernde Infrastrukturunfälle wie etwa die Sperrung der Elbebrücke Hämerten in Folge des Elbehochwassers im Jahr 2013 oder der Bau-Unfall bei Rastatt im Jahr 2017 das Potenzial, einen ITF regional stark zu stören und seine Qualität für längere Zeit zu mindern.
Sollte sich herausstellen, dass das Versprechen einer Vielzahl möglicher Umstiege ohne lange Wartezeiten oft nicht eingehalten werden kann, wird die Attraktivität eines ITF stark leiden. Dies insbesondere dann, wenn im Kontext des ITF die Zahl der Direktverbindungen reduziert wurde oder ihre Qualität durch Einführung zusätzlicher oder längerer Halte vermindert wurde.
Ansprechpartner
Karlsruher Institut für Technologie (KIT), Institut für Volkswirtschaftslehre (ECON), Prof. Dr. Kay Mitusch
Zugehörige Wissenslandkarte(n)
Potenziale und Herausforderungen des Deutschland-Takts im Schienenpersonenfernverkehr (Stand des Wissens: 29.07.2021)
https://www.forschungsinformationssystem.de/?538968
Literatur
[BFS19] Bundesamt für Statistik (Schweiz) (Hrsg.) Öffentlicher Verkehr (inkl. Schienengüterverkehr), 2019
[BMVI15x] IGES Institut GmbH Machbarkeitsstudie zur Prüfung eines Deutschland-Takts im Schienenverkehr, 2015
[Bund18] CDU, CSU, SPD Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD
19. Legislaturperiode, Berlin, 2018/03/12
[BVU10] BVU Beratergruppe Verkehr+Umwelt GmbH (Hrsg.) Überprüfung des Bedarfsplans für die Bundesschienenwege, 2010
[Enge12] Engel, Rainer Der integrale Taktfahrplan: Grenzen und Chancen, veröffentlicht in Eisenbahn-Revue International, Ausgabe/Auflage 2012/5, 2012
[ShLe13] Schumann, Tilo, Lemmer, Karsten Next Generation Train - neue Potenziale für den europäischen HGV, veröffentlicht in Eisenbahntechnische Rundschau, Ausgabe/Auflage 1, 2013
Glossar
ITF Integraler Taktfahrplan Nach dem Merkblatt zum Integralen Taktfahrplan lassen sich drei verschiedene Formen des ITF unterscheiden: Der Begriff des idealen ITF umfasst die Koordination der Taktfahrpläne von Linien zu einem abgestimmten, vertakteten Gesamtfahrplan, wobei eine Verknüpfung in Richtung und Gegenrichtung in ausgewählten Taktknoten mit dem Ziel erfolgt, die Anzahl optimaler Anschlüsse zu maximieren. Der modifizierte ITF schränkt die vollständige Verknüpfung entsprechend des idealen ITF ein und berücksichtigt dabei die verkehrlichen, geographischen und wirtschaftlichen Randbedingungen. Der ITF im erweiterten Sinne umfasst Maßnahmen zur Steigerung der Attraktivität im (Schienen-)Personennahverkehr, die nicht zwangsläufig mit der eigentlichen Definition des ITF abgedeckt sind.
Schienengüterverkehr
Unter Schienengüterverkehr (SGV) wird der Transport von Gütern mit der Eisenbahn verstanden. Diese werden in Güterzügen unter Verwendung (spezieller) Güterwagen befördert. Diese Verkehre können entweder auf gesonderten Güterverkehrsstrecken oder im Mischverkehr, auf gemeinsam durch den Güter- und Personenverkehr genutzten Strecken, realisiert werden. Leistungen des Schienengüterverkehrs werden häufig als Teil einer Logistikkette in logistische Gesamtkonzepte eingebunden.
Deutschland-Takt Der Deutschland-Takt ist ein Ansatz zur netzweiten Optimierung des Schienenpersonenverkehrs in Deutschland. Den Kernpunkt bildet hierbei die Einführung eines Integralen Taktfahrplans (ITF), die notwendigerweise mit koordinierten Infrastrukturverbesserungen verbunden ist. Das Ziel soll eine Steigerung der Fahrgastzahlen durch ein attraktiveres, vertaktetes und gut verknüpftes Verkehrsangebot sowohl im Schienenpersonenfernverkehr als auch Schienenpersonennahverkehr sein.
BMDV
Bundesministerium für Digitales und Verkehr (bis 10/2005 BMVBW, bis 12/2013 BMVBS und bis 11/2021 BMVI)
Verkehrsleistung
Die Verkehrsleistung gibt Auskunft über die Inanspruchnahme von Ressourcen. Als Verkehrsleistung wird die auf eine Zeiteinheit t (zum Beispiel ein Jahr) bezogene Verkehrsarbeit definiert und als Quotient dargestellt. Die Verkehrsarbeit wird dabei als Produkt von Verkehrseinheiten (zum Beispiel Güter oder Personen) und der durch diese zurückgelegten Strecke gebildet. In der Verkehrswissenschaft sind die Einheiten Personenkilometer pro Jahr [Pkm/a] oder Tonnenkilometer pro Jahr [tkm/a] gebräuchlich.

Auszug aus dem Forschungs-Informations-System (FIS) des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur

https://www.forschungsinformationssystem.de/?538742

Gedruckt am Donnerstag, 28. März 2024 12:44:11