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Gesundheitliche Aspekte des Pendelns

Erstellt am: 19.12.2019 | Stand des Wissens: 10.11.2023
Synthesebericht gehört zu:

Als Berufspendler*in gelten laut Statistischem Bundesamt "alle Erwerbstätigen, die ihre außerhalb der eigenen Wohnung bzw. außerhalb des eigenen Grundstücks gelegene Arbeitsstätte vom Hauptwohnsitz aus erreichen" [BDHN04, S. 92]. Parallel hierzu gibt es auch Bildungspendler, die entsprechenden Wege zu ihrer jeweiligen Ausbildungsstätte zurücklegen (Schule, Berufsschule, Hochschule). Der Zeitaufwand kann dabei sehr unterschiedlich sein. Abbildung 1 gibt einen Überblick für beide Pendlergruppen und zeigt außerdem Informationen zum Modal Split.
Zeitaufwand und hauptsaechlich genutztes Verkehrsmittel von Berufs- und Bildungspendler in Deutschland 2016.jpg.pngAbb. 1: Zeitaufwand und hauptsächlich genutztes Verkehrsmittel von Berufs- und Bildungspendler in Deutschland 2016 (eigene Darstellung, Quelle der Daten [DEST16b; DEST16i]
Die Mehrheit der Menschen in beiden Gruppen ist zwischen 10 und 30 Minuten unterwegs aber während Arbeitswege zu mehr als zwei Drittel mit dem Auto zurückgelegt werden, überwiegt beim Bildungspendeln (das Schulwege Minderjähriger miteinschließt) mit knapp der Hälfte der Wege der ÖV. Interessant ist, dass die Verteilung der Reisezeiten sich deutlich weniger stark unterscheidet als der Modal Split. Bildungspendler sind zu 35,7 Prozent nicht motorisiert unterwegs, dieser Anteil macht bei den Berufspendlern nur 17,2 Prozent aus. Letztere legen also auch kürzere Wege eher mit dem Auto oder mit Bus und Bahn zurück. In beiden Gruppen haben sich sowohl die Anzahl der Wege als auch die zurück gelegten Distanzen zwischen 2002 und 2017 erhöht (zur Arbeit: von 40 auf 43 Millionen Wege und von 597 auf 672 Millionen Personenkilometer; zur Ausbildung: von 17 auf 18 Millionen Wege und von 111 auf 131 Personenkilometer; [INFA18]).
Sowohl die Werte für sich genommen als auch im Vergleich zwischen den Gruppen und über die Jahre sind im Kontext von sozialen Aspekten der Mobilität deswegen interessant, weil die Aktivität des Pendelns einen wichtigen Faktor für sowohl psychisches Wohlbefinden als auch die körperliche Gesundheit darstellt. Relevant hierfür sind das Maß an körperlicher Bewegung, gesundheitswirksame Umweltfaktoren und Stresserlebnisse.
In einer breiter angelegten Studie zeigten Hansson et al. [HMBO11], dass sowohl die Länge des Pendelwegs (in Minuten) als auch das genutzte Verkehrsmittel mit verschiedenen Gesundheitseffekten in Verbindung stehen. Zum Vergleich wurden jeweils die Gesundheitsrisiken für diejenigen verwendet, die den Weg zur Arbeit nicht-motorisiert zurücklegten. Sozioökonomische Faktoren wie Alter, Geschlecht, Familiensituation oder Stress bei der Arbeit wurden hierbei berücksichtigt. Selbst wenn deren Wirkung herausgerechnet wurde, zeigte sich, dass besonders Autofahrten zwischen 30 und 60 Minuten und ÖV-Wege von 30 bis über 60 Minuten Dauer signifikant mit einem höheren Risiko für folgende Gesundheitseffekte in Verbindung standen: verminderte Schlafqualität, geringe Vitalität, schlechter allgemeiner Gesundheitszustand (subjektive Bewertung) und mehr als fünf Krankheitstage pro Jahr. Diese Ergebnisse wurden mit Daten der südschwedischen Region Schonen erzielt, die Autoren sehen jedoch eine Übertragbarkeit auf andere westeuropäische Zusammenhänge. Sie geben allerdings zu bedenken, dass das Auftreten von Verkehrsstaus, die Nutzungsqualität des ÖV-Systems und die Luftbelastung mit Schadstoffen eine wichtige Rolle spielen und hier von Region zu Region große Unterschiede auftreten können.
Häfner et al. [HAKK01] zeigten in einer Literaturanalyse bereits zu Beginn des Jahrtausends, dass Berufspendler im Vergleich zu nicht Pendelnden häufiger über gesundheitliche Probleme berichten (Kopf-, Rücken und Gelenkschmerzen sowie Erkrankungen des Herz-Kreislaufsystems und des Verdauungsapparats). Besonders betroffen waren dabei Fernpendler und pendelnde Arbeitnehmer im Schichtdienst. Gottholmseder et al. [GNPT09] stellten fest, dass für Pendelnde in Österreich die Länge des Arbeitsweges (in Minuten) und die Vorhersehbarkeit (und somit Planbarkeit) dieser Dauer in direktem Zusammenhang mit dem empfundenen Stress standen. Diese Ergebnisse wurden auch von einer nordamerikanischen Studie bestätigt [HAKB2013]. In allen drei Studien waren die negativen Effekte bei Frauen stärker ausgeprägt als bei Männern. Keine der genannten Untersuchungen berücksichtigte das Pendeln zu Ausbildungszwecken.
Alle Autoren sind sich einig, dass die negativen gesundheitlichen Effekte des Pendelns und die damit verbundenen Kosten zu wenig Berücksichtigung in der Bewertung der Mobilität von Berufstätigen finden. Dies gelte sowohl für privatwirtschaftliche Betrachtungen als auch für z.B. Kosten-Nutzen Untersuchungen für Investitionen in verschiedene Verkehrsträger, die (auch) eine verbesserte Pendelmobilität zum Ziel haben.
Zudem trägt auch die Verkehrsmittelwahl im Pendlerverkehr jeweils mehr oder weniger zu negativen Effekten des Verkehrs wie Luftverschmutzung, Lärm, Flächenverbrauch, Unfällen und Emissionen von klimaschädlichen Gasen bei [UBA018a], was bei entsprechenden Planungen und Maßnahmen berücksichtigt werden sollte. Zu arbeitgeberseitigen Maßnahmen gehören die Flexibilisierung der Arbeitszeiten (Vermeidung von Hauptverkehrszeiten, Teilzeitarbeit) und Möglichkeiten zur Telearbeit sowie ein integriertes betriebliches Mobilitätsmanagement, das sowohl Effizienzgewinne für Betriebe als auch gesünderes, kostengünstigeres und zeitsparenderes Pendeln für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zum Ziel hat [BAUM18]. In der Verkehrs- und Raumplanung können die Stärkung des Umweltverbundes (attraktivere Angebote für Fuß- und Radverkehr; häufige, schnelle sowie möglichst zuverlässige und umsteigearme ÖV-Verbindungen) und ein vermehrter Fokus auf Nutzungsmischung die Notwendigkeit für das Pendeln reduzieren und die gesundheitswirksamen Aspekte der Pendelerfahrung verbessern helfen. Es wird interessant sein zu beobachten, ob die Veränderungen im Pendelverhalten, die sich für manche Berufsgruppen durch vermehrte Heimarbeit im Nachgang der Coronapandemie abzeichnen, messbare gesundheitswirksame Effekte entfalten.
Ansprechpartner
Technische Universität Hamburg, Institut für Verkehrsplanung und Logistik, Prof. Dr.-Ing. H. Flämig
Zugehörige Wissenslandkarte(n)
Soziale Dimension von Mobilität und Verkehr (Stand des Wissens: 24.06.2022)
https://www.forschungsinformationssystem.de/?507232
Literatur
[BAUM18] B.A.U.M. Consult GmbH Mobil Gewinnt - Betriebliches Mobilitätsmanagement zahlt sich aus, 2018
[BDHN04] Breiholz, Holger, Duschek, Klaus-Jürgen, Hansch, Esther;, Nöthen, Manuela Leben und Arbeiten in Deutschland. Ergebnisse des Mikrozensus 2004, 2004
[DEST16b] Statistisches Bundesamt (Destatis) (Hrsg.) Berufspendler. Ergebnisse des Mikrozensus 2016, 2016
[DEST16i] Statistisches Bundesamt (Destatis) (Hrsg.) Bildungspendler. Ergebnisse des Mikrozensus 2016, 2016
[GNPT09] Gottholmseder, Georg, Nowotny, Klaus, Pruckner, Gerald J., Theurl, Engelbert Stress perception and commuting, veröffentlicht in Health economics, Ausgabe/Auflage 18 (5), 2009, Online-Referenz doi:10.1002/hec.1389
[HAKB2013] Haider, Murtaza, Kerr, Kenneth, Badami, Madhav Does Commuting Cause Stress? The Public Health Implications of Traffic Congestion, veröffentlicht in SSRN Journal, 2013, Online-Referenz doi:10.2139/ssrn.2305010
[HAKK01] Häfner, Steffen, Kordy, Hans, Kächele, Horst Psychosozialer Versorgungsbedarf bei Berufspendlern, veröffentlicht in Psychotherapie Psychosomatik Medizinische Psychologie, Ausgabe/Auflage 51, 2001
[HMBO11] Hansson, Erik, Mattisson, Kristoffer, Bjork, Jonas, Ostergren, Per-Olof, Jakobsson, Kristina Relationship between commuting and health outcomes in a cross-sectional population survey in southern Sweden, veröffentlicht in BMC Public Health, Ausgabe/Auflage 11 (1), 2011
[INFA18] infas Institut für angewandte Sozialwissenschaft GmbH Mobilität in Deutschland 2017. Kurzreport. Verkehrsaufkommen - Struktur - Trends, Bonn, 2018
[UBA018a] UBA - Umweltbundesamt (Hrsg.) Vergleich der durchschnittlichen Emissionen einzelner Verkehrsmittel im Personenverkehr. Bezugsjahr 2016., Dessau-Roßlau, 2018
Glossar
Personenkilometer
Die Einheit Personenkilometer [Pkm] beschreibt die im Rahmen einer Personenbeförderung erbrachte Verkehrsarbeit. Diese definiert sich als Produkt der Verkehrsmenge (Summe der beförderten Personen) und der von dieser dabei zurückgelegten Wegstrecke in km.
Verkehrsarbeit [Pkm] = Verkehrsmenge [P] * Wegstrecke [km]
ÖV
Der öffentliche Verkehr (ÖV) ist sowohl im Personen-, Güter- sowie Nachrichtenverkehr für jeden Nutzer in einer Volkswirtschaft öffentlich zugänglich. Dazu zählen sowohl die öffentliche Personenbeförderung, der öffentliche Gütertransport als auch die öffentlichen Telekommunikations- und Postdienste. Der ÖV wird dabei von Verkehrsunternehmen nach festgelegten Routen, Preisen und Zeiten durchgeführt. Der ÖV ist somit im Gegensatz zum Individualverkehr (IV) örtlich und zeitlich gebunden.
Vor dem Hintergrund der verkehrspolitisch geförderten Multimodalität wird der ÖV zunehmend breiter definiert, indem auch alternative Bedienformen, Taxen bis hin zu öffentlichen Fahrrädern und öffentlichen Autos als Teil eines neuen individualisierten ÖV gesehen werden.
Umweltverbund
Unter dem Begriff Umweltverbund wird die Kooperation der umweltfreundlichen Verkehrsmittel verstanden. Hierzu zählen die öffentlichen Verkehrsmittel (Bahn, Bus und Taxis), nicht motorisierte Verkehrsträger (Fußgänger und private oder öffentliche Fahrräder), sowie Carsharing und Mitfahrzentralen. Ziel ist es, Verkehrsteilnehmern zu ermöglichen, ihre Wege innerhalb des Umweltverbunds, anstatt mit dem eigenen Pkw, zurückzulegen. Zunehmend wird der Begriff Mobilitätsverbund genutzt.
Modal Split
Modal Split wird in der Verkehrsstatistik die prozentuale Verteilung des Personen- und Güterverkehrs auf verschiedene Verkehrsmittel (Modi) genannt. Der Modal Split ist Folge des Mobilitätsverhaltens der Menschen und der wirtschaftlichen, insbesondere der verkehrlichen Entscheidungen von Unternehmen.

Auszug aus dem Forschungs-Informations-System (FIS) des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur

https://www.forschungsinformationssystem.de/?507187

Gedruckt am Mittwoch, 24. April 2024 19:35:55