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Gesellschaftliche Teilhabe und ihr Bezug zur Mobilität

Erstellt am: 19.12.2019 | Stand des Wissens: 10.11.2023
Synthesebericht gehört zu:

Als Teilhabe wird der Zugang von Menschen und Gruppen zu Aktivitäten und Ressourcen wie Erwerbsarbeit, sozialen Beziehungen, politischen Entscheidungsprozessen, Kultur und Kapital verstanden. Daher ist der Begriff der Teilhabe eng mit der soziologischen und sozialpolitischen Betrachtung von Armut und sozialer Ausgrenzung verknüpft. Er stellt einen positiven normativen Gegenbegriff dar, anhand dessen Armut und soziale Exklusion definiert werden [BAPE07].
Bartelheimer unterscheidet in Anlehnung an Kronauer [Kro02; Kro06] vier Formen der gesellschaftlichen Teilhabe [BAPE07]: die Teilhabe an Erwerbsarbeit, an sozialen Nahbeziehungen, an Rechten und an Bildung (siehe Tabelle 1). Die Teilhabe wird jeweils durch gesellschaftliche Ressourcen und Institutionen katalysiert bzw. ermöglicht. Sie mündet in Teilhabeergebnissen, die sich in konkreten Wohlfahrtspositionen der betrachteten Individuen niederschlagen. Vom Wirtschaftswissenschaftler Amartya Sen werden diese verwirklichten Teilhabechancen als Functionings bezeichnet [SENA99].
Formen gesellschaftlicher Teilhabe.jpg.pngAbb. 1: Formen gesellschaftlicher Teilhabe, aufbauend auf Modellen von Amartya Sen und Martin Kronauer. Nach Bartelheimer [BAPE07, S. 10].
Die Teilhabefrage darf dabei nicht auf ein simples Schema von innerhalb und außerhalb der Gesellschaft reduziert werden. Zum einen beruht der Teilhabebegriff nämlich darauf, dass alle Individuen - unabhängig von ihrer Wohlfahrtsposition - Mitglieder einer Gesellschaft sind. Zum anderen existiert kein einzelner Indikator, der für den Einschluss in die oder den Ausschluss aus der Gesellschaft herangezogen werden könnte. Stattdessen ist Teilhabe mehrdimensional:
"Typische Lebenslagen [...] ergeben sich erst durch das Zusammenwirken verschiedener Teilhabeformen [...]. Eine Teilhabeform kann dabei Kontextbedingung oder Umwandlungsfaktor für eine andere sein. Verschiedene Teilhabeformen können einander kompensieren und Gefährdungen abpuffern" [BAPE07, S. 11].
Daraus folgt entsprechend, dass sich die Messung von Teilhabe als sehr komplex gestaltet.
Eine Größe, mit der Teilhabechancen eines Menschen oder einer Gruppe mehrdimensional gemessen werden können, ist der sozioökonomische Status (englisch: socio-economic status, die gebräuchliche Abkürzung lautet SES). Je nach Forschungszweck wird er unterschiedlich operationalisiert. Beispielhaft sei eine Form des SES erläutert, die im Gesundheitsmonitoring des Robert-Koch-Instituts angewendet wird. Dieser verwendet drei Subskalen (siehe Tabelle 2) und wird auf einer Skala von 3 (niedriger Status) bis 21 Punkten (hoher Status) abgebildet.
Skalen des sozioekonomischen Status.pngAbb. 2: Skalen des soziökonomischen Status (SES) nach [LKMS13]
Hat eine Person einen Punktwert von 7,7 oder darunter, wird ihr Status als niedrig eingeschätzt. Ab einem Punktwert von 13,9 gilt der SES als hoch. Diese Grenzen sind so gewählt, dass sich 60 Prozent der Bevölkerung im Mittelfeld befinden und jeweils 20 Prozent einen niedrigen bzw. hohen sozioökonomischen Status aufweisen [LKLM13]. Es handelt sich also um eine relative Bewertungsskala.
Am Konzept des SES wird kritisiert, dass er Merkmale außer Acht lässt, die die Teilhabesituation zusätzlich beeinflussen können: das Geschlecht, die Migrationsgeschichte oder das Alter berücksichtigt der SES beispielsweise nicht [DIMA15].
Die internationale Debatte über Teilhabe wird unter dem Schlagwort inclusion geführt. Da der deutsche Begriff der Inklusion allerdings zur Verwirrung führen könnte (nachdem er im Rahmen von Luhmanns Systemtheorie bereits besetzt ist), wird im deutschen Diskurs der Begriff Teilhabe verwendet [BAPE07].
Die Möglichkeit der Bevölkerung zur Mobilität ist eine zentrale Voraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe. Sie kann von staatlicher Seite durch finanzielle und planerische Instrumente gesteuert werden.
Ansprechpartner
Technische Universität Hamburg, Institut für Verkehrsplanung und Logistik, Prof. Dr.-Ing. H. Flämig
Zugehörige Wissenslandkarte(n)
Soziale Dimension von Mobilität und Verkehr (Stand des Wissens: 24.06.2022)
https://www.forschungsinformationssystem.de/?507232
Literatur
[BAPE07] Bartelheimer, Peter Politik der Teilhabe. Ein soziologischer Beipackzettel., veröffentlicht in (Fachforum: Analysen & Kommentare, 1, Berlin, 2007
[DIMA15] Ditton, Hartmut, Maaz, Kai Sozioökonomischer Status und soziale Ungleichheit, veröffentlicht in Empirische Bildungsforschung. Gegenstandsbereiche, Ausgabe/Auflage 2. überarb. Aufl., Wiesbaden: Springer VS, 2015
[Kro02] Kronauer, M. Exklusion. Die Gefährdung des Sozialen im hoch entwickelten Kapitalismus, Frankfurt am Main / New York, 2002
[Kro06] Kronauer, M. "Exklusion" als Kategorie, veröffentlicht in Das Problem der Exklusion. Ausgegrenzte, Entbehrliche, Überflüssige, Hamburg, 2006
[LKLM13] Lampert, T., Kroll, L. E., Lippe, E. von der, Müters, S., Stolzenberg, H. Sozioökonomischer Status und Gesundheit. Ergebnisse der Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland (DEGS1), veröffentlicht in Bundesgesundheitsblatt, Gesundheitsforschung, Gesundheitsschutz, Ausgabe/Auflage 56 (5-6), 2013, Online-Referenz doi:10.1007/s00103-013-1695-4
[LKMS13] Lampert, T., Kroll, L., Müters, S., Stolzenberg, H. Messung des sozioökonomischen Status in der Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland (DEGS1), veröffentlicht in Bundesgesundheitsblatt, Gesundheitsforschung, Gesundheitsschutz, Ausgabe/Auflage 56 (5-6), 2013, Online-Referenz doi:10.1007/s00103-012-1663-4
[SENA99] Sen, Amartya Commodities and capabilities, New Delhi: Oxford Univ. Press (Oxford India paperbacks, 7), 1999

Auszug aus dem Forschungs-Informations-System (FIS) des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur

https://www.forschungsinformationssystem.de/?507113

Gedruckt am Donnerstag, 25. April 2024 16:59:24