Forschungsinformationssystem des BMVI

zurück Zur Startseite FIS

Ursachen für Probleme des ÖPNV im ländlichen Raum

Erstellt am: 11.03.2019 | Stand des Wissens: 27.07.2023
Synthesebericht gehört zu:

Ursachen für die problematische Entwicklung des Öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) im ländlichen Raum, die sich auf den momentanen Widerspruch von attraktivem und gleichzeitig wirtschaftlich nicht tragfähigen ÖPNV bezieht, sind komplex, beeinflussen sich gegenseitig und lassen sich somit in keinen einfachen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang bringen [StKü10, S. 12]. Ein Erklärungsversuch, der demografische, gesellschaftliche sowie geographische Einflussfaktoren und Verflechtungen einbezieht, wird dennoch im Folgenden gewagt. Dabei werden die zunehmende Motorisierung der Bevölkerung, der demografische Wandel und eine flexible Nachfrage sowie die geringe Nachfragedichte und schwere Bündelungsmöglichkeiten als Ursachen für die problematische Entwicklung des ÖPNV im ländlichen Raum thematisiert.
Zunehmende Motorisierung der Bevölkerung
Die geringe Nutzung und die daraus resultierenden Finanzierungsschwierigkeiten eines attraktiven Angebots mit einer entsprechenden Qualität des ÖPNV können teilweise durch die zunehmende Motorisierung der ländlichen Bevölkerung erklärt werden [KÜPP11, S. 156; Rusch23]. Einerseits ist die hohe Habitualisierung der Pkw-Nutzung und die Auto-Affinität von Menschen, sowie andererseits die geringe Attraktivität des ÖPNV gegenüber des MIV für diesen Effekt verantwortlich [KÜPP11, S. 156].
Damit einhergehend verringert sich die Auslastung auf den Strecken, wodurch die Finanzierung des traditionellen ÖPNV allgemein erschwert und auf einigen Strecken sogar wirtschaftlich nicht mehr tragfähig ist. Die daraus folgenden notwendigen Einsparungen äußern sich in einer reduzierten Angebotsqualität (unattraktive Taktzeiten und Wochenendlücken) und in der Ausdünnung des Angebots (unattraktive Streckenführung bis Nicht-Bedienung/Stilllegung unrentabler Strecken) [StKü10, S. 5]. Dies hat zur Folge, dass der ÖPNV an weiterer Attraktivität verliert und kaum als potenzielle Alternative zum MIV in Betracht gezogen werden kann. Daraus resultiert im Sinne einer Abwärtsspirale eine weitere Verlagerung auf den MIV und somit eine weitere Schwächung des ÖPNV [StKü10, S. 25].

Demografischer Wandel
Zu weiteren Effekten, die die Entwicklungen des ÖPNV im ländlichen Raum verstärken, zählt der demografische Wandel. Sinkende Geburtenzahlen, die Alterung der Bevölkerung und die insgesamt abnehmende Bevölkerungszahl auf dem Land sorgen für eine veränderte Nachfrage des ÖPNV. Besonders Schüler- und Auszubildendenverkehre, die als Hauptfinanzierungsquelle des ÖPNV gelten, werden durch zukünftig weiter sinkende Schülerzahlen unrentabler. Weiterhin ist damit zu rechnen, dass zukünftig durch einen Kohorteneffekt der Anteil älterer Menschen mit Führerschein steigt, wodurch mit einer weiteren Verschlechterung der öffentlichen Mobilitätsdienstleistungen zu rechnen ist. [KÜPP11, S. 158 f., BMVI18, S.8]

Flexible Nachfrage, geringe Nachfragedichte und schwere Bündelungsmöglichkeiten
Als weitere Herausforderung gilt die zunehmend flexible Nachfrage: Die Zersiedelung, sowie die daraus resultierende geringe Nachfragedichte bei gleichzeitiger Zentralisierung von Funktionen des öffentlichen Lebens, erschweren die Bündelung der Verkehrsnachfrage mit dem traditionellen Linienverkehr. Neue Arbeitsmodelle, wie mobiles Arbeiten, Telearbeit und Homeoffice, wirken sich zunehmend auf das Mobilitätsverhalten im Pendelverkehr aus. Zwar kommt der Umwelt die Vermeidung von Fahrten und die Reduktion des Verkehrsaufkommens zugute, allerdings verstärkt sie das Problem der Unterauslastung des ÖPNV im ländlichen Raum, sofern dieser zuvor regelmäßig(er) genutzt wurde. Darüber hinaus nehmen Freizeit- und Versorgungsverkehre zu, die ebenfalls schwer räumlich und zeitlich zu bündeln sind [KÜPP11, S. 155].
Die moderne und arbeitsteilige Gesellschaft hat demzufolge individuelle Mobilitätsanforderungen und -bedürfnisse, die schwer durch liniengebundene Verkehrsmittel zu erfüllen sind. Diese flexible Nachfrage wird durch demographische und wirtschaftliche Schrumpfungsprozesse insbesondere in strukturschwachen ländlichen Räumen verstärkt [bpb06; Guts06]. Die sinkende Siedlungsdichte schlägt sich zum einen in geringen Fahrgastauslastungen nieder und zum anderen wird der Qualitätsnachteil gegenüber dem MIV durch längere Fahrten, Umwegfahrten und Umsteigezeiten verstärkt [KÜPP11, S. 158].
Die zuvor aufgeführten Aspekte der zunehmenden Motorisierung, des demografischen Wandels und der flexiblen Nachfrage sind im ländlichen Raum für eine geringere Nachfrage des ÖPNV verantwortlich, auf die aufgrund von Finanzierungsproblemen mit einer Minderung der Qualität und/oder mit der Reduzierung beziehungsweise Stilllegung des Angebotes reagiert wird.
Den Anforderungen disperser Siedlungsstrukturen, ausdifferenzierter Lebensstile sowie Mobilitätsbedürfnissen von Älteren, sozial Schwächeren und Jüngeren kann der traditionelle ÖPNV unter wirtschaftlicher Tragfähigkeit nicht mehr beziehungsweise nur noch ungenügend gerecht werden können. Um eine Balance zwischen wirtschaftlicher Tragfähigkeit und attraktivem Angebot, das sich an den Bedürfnissen der Bevölkerung orientiert, herzustellen, sind flexible, alternative und zukunftsfähige Bedienformen notwendig. Dabei ist es zudem von Bedeutung die jeweiligen Stärken ländlicher Räume richtig zu nutzen und zielgenau zu fördern, gleichzeitig aber auch den Nachteilen umwelt- und sozialverträglich zu begegnen [FES18, S.7 ].
Ansprechpartner
Institut für Mobilitäts- und Stadtplanung, Universität Duisburg-Essen, Prof. Dr.-Ing. Dirk Wittowsky
Zugehörige Wissenslandkarte(n)
Sicherstellung der öffentlichen Mobilität im ländlichen Raum (Stand des Wissens: 27.07.2023)
https://www.forschungsinformationssystem.de/?507678
Literatur
[BMVI18] Bernd Rittmeier, Melanie Herget , Johann Kaether , Jonas Koch , Katrin Müller Sicherung von Versorgung und Mobilität. Strategien und Praxisbeispiele für gleichwertige Lebensverhältnisse in ländlichen Räumen , 2018/08
[bpb06] Beetz, Stephan Ländliche Politik im demographischen Wandel, veröffentlicht in Politik und Zeitgeschichte, Ausgabe/Auflage 21/22, 2006
[FES18] Becker, Udo , Bormann, René , Clarus, Elke , Faber, Werner , Herget, Melanie , Holzapfel, Helmut , Hunsicker, Frank , Stuber, Martin , Walter, Ulrike , Weis, Petra , Zimmermann, Hermann Mobilität im ländlichen Raum sichern. Perspektive entwickeln, Identität ermöglichen, Freiräume schaffen, Kostenwahrheit angehen, 2018/08, ISBN/ISSN 978-3-96250-069-6
[Guts06] Jens-Martin Gutsche Soziale Infrastrukturen:
Anpassungsfähigkeit und Remanenzkosten bei Nachfrageveränderungen
Modellrechnungen für die Planungsregion Havelland-Fläming, veröffentlicht in Informationen zur Raumentwicklung, Ausgabe/Auflage 5, 2006
[KÜPP11] Küpper, Patrick Auf dem Weg zu einem Grundangebot von
Mobilität in ländlichen Räumen: Probleme, Ursachen und Handlungsoptionen, veröffentlicht in Schneller, öfter, weiter? Perspektiven der Raumentwicklung in der Mobilitätsgesellschaft, Verlag der ARL, Hannover, 2011, Online-Referenz http://hdl.handle.net/10419/60213, ISBN/ISSN 978-3-88838-371-7
[Rusch23] Tobias Ruscheinski Herausforderungen ländlicher Räume - das Ziel gleichwertiger Lebensverhältnisse, veröffentlicht in Smart Region: Angewandte digitale Lösungen für den ländlichen Raum, 2023, Online-Referenz doi:10.1007/978-3-658-38236-0, ISBN/ISSN 978-3-658-38236-0
[StKü10] Barbara Steinrück , Patrick Küpper Mobilität in ländlichen Räumen unter besonderer Berücksichtigung bedarfsgesteuerter Bedienformen des ÖPNV , veröffentlicht in Arbeitsberich-te aus der vTI-Agrarökonomie, Braunschweig, 2010/02
Glossar
Motorisierter Individualverkehr Als motorisierter Individualverkehr (MIV) wird die Nutzung von Pkw und Krafträdern im Personenverkehr bezeichnet. Der MIV, als eine Art des Individualverkehrs (IV), eignet sich besonders für größere Distanzen und alle Arten von Quelle-Ziel-Beziehungen, da dieser zeitlich als auch räumlich eine hohe Verfügbarkeit aufweist. Verkehrsmittel des MIV werden von einer einzelnen Person oder einem beschränkten Personenkreis eingesetzt. Der Nutzer ist bezüglich der Bestimmung von Fahrweg, Ziel und Zeit frei (örtliche, zeitliche Ungebundenheit des MIV).
Öffentlicher Personennahverkehr
Der öffentliche Personennahverkehr ist juristisch im Personenbeförderungsgesetz (PBefG) definiert. Laut Paragraf 8, Absatz 1 und 2 umfasst der ÖPNV "die allgemein zugängliche Beförderung von Personen mit Straßenbahnen, Obussen und Kraftfahrzeugen im Linienverkehr, die überwiegend dazu bestimmt sind, die Verkehrsnachfrage im Stadt-, Vorort- oder Regionalverkehr zu befriedigen". Taxen oder Mietwagen können dieses Angebot ersetzten, ergänzen oder verdichten.
Der Begriff ÖPNV bezieht sich in der Regel auf Strecken mit einer gesamten Reiseweite von weniger als 50 Kilometern oder einer gesamten Reisezeit von weniger als einer Stunde. Das in einer Stadt oder Region erforderliche Nahverkehrsangebot und dessen Eignung hinsichtlich Nachhaltigkeit und Klimaschutz wird in einem Nahverkehrsplan definiert und festgehalten.

Auszug aus dem Forschungs-Informations-System (FIS) des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur

https://www.forschungsinformationssystem.de/?495874

Gedruckt am Freitag, 19. April 2024 18:25:43