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Probleme bei der Migration neuer lärmarmer Fahrzeugtechnologien

Erstellt am: 27.06.2003 | Stand des Wissens: 08.11.2018
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TU Dresden, Professur für Integrierte Verkehrsplanung und Straßenverkehrstechnik, Prof. Dr.-Ing. Regine Gerike

Neue lärmarme Technologien stehen zwar zur Verfügung, aufgrund fehlender wirtschaftlicher Anreize sind die Schienenverkehrsbetreiber jedoch nicht gewillt, im Rahmen deren Einführung entstehende Kosten zu übernehmen. Die Lärmproblematik im Schienenverkehr wird zu einem erheblichen Teil vom hauptsächlich nachts verkehrenden Güterverkehr verursacht. Die Fahrzeuge des Schienengüterverkehrs weisen zum Teil eine - im Vergleich zum Lkw - mit 30 bis 40 Jahren ausgesprochen lange Lebensdauer auf. Derzeit sind in Deutschland ungefähr 160.000 beziehungsweise in Europa 740.000 Güterwagen in Betrieb [EUKOM09h, S. 45]. Geht man wie Geßner davon aus, dass leises Rollmaterial erst ab einem Anteil von 80 bis 90 Prozent am Gesamtfahrzeugbestand spürbare Effekte erzielt, so offenbart sich die Langfristigkeit von Schallvermeidungsmaßnahmen, wenn sie ausschließlich auf Neuwagen beschränkt bleiben [Gess02, S. 24].

Das Beispiel der Klotzbremse mit leiseren Verbundstoff-Sohlen zeigt jedoch das Problem mit einer den Altfahrzeugbestand einbeziehenden Technologieeinführung auf. Während sich der Umstieg auf die lärmarme Bremstechnik im Falle von Neufahrzeugen kostenneutral realisieren lässt, fallen beim Umbau vorhandener Fahrzeuge erhebliche Kosten an [UIC07d, S. 4; UIC10a, S. 13]. Abbildung 1 zeigt die Betriebs- und Umrüstkosten der Grauguss-Sohle sowie der leiseren Verbundstoffsohlen (K- und LL-Sohle). Aus Sicht der Schienenverkehrsbetreiber steht diesem finanziellen Mehraufwand jedoch, wie bereits erwähnt, kein zusätzlicher kommerzieller Nutzen gegenüber. Daher lehnen sie den Umbau aus eigenen Mitteln in der Regel ab.
Umruest- und Betriebskosten.jpgAbb. 1: Vergleich Umrüstungskosten Bremssohlen (eigene Darstellung nach [Kloc12, S. 16])

Im Rahmen des Pilotprojekts "Leiser Rhein", welches ein Teil des Pilot- und Innovationsprogramms "Leiser Güterverkehr" ist, wurden 1.494 Güterwagen auf geräuschemissionsreduzierende Bremstechnik umgerüstet [BMVI19as, S. 40]. Dabei wurden circa 7,5 Millionen Euro der insgesamt 40 Millionen Euro des Projektbudgets in die Umrüstung der Bremsen investiert. Die Kosten trägt der Bundeshaushalt aus eben erwähnten Lärmsanierungsmitteln. Im Oktober 2012 konnte ein Demonstrationszug mit teilweise umgerüsteten Wagen präsentiert werden [Tork12]. Bis zu diesem Zeitpunkt wurden 60 von 1.250 geplanten Umrüstungen vorgenommen. Das Projekt beinhaltete ursprünglich den Umbau von 5.000 Güterwagen bis Ende 2012. Der Umfang des Projektes musste jedoch aus wettbewerbsrechtlichen Gründen reduziert werden. [BMVBS09l, S. 9; DBAG10b, S. 11, DBAG12k]

Als Vorbild für die genannten Maßnahmen wird die Schweiz benannt, in der mit Hilfe von Bundesmitteln die Umrüstung aller Güterwagen auf die neue Brems-Technologie finanziert wird [DBAG02d]. Gemäß Abschnitt 2, Art. 4 des BGLE sind die Lärmemissionen der Schienenfahrzeuge [] durch technische Maßnahmen soweit zu begrenzen, als dies technisch und betrieblich möglich sowie wirtschaftlich tragbar ist. Damit sind die geräuschintensiven Grauguss-Bremsen ab 2020 auf dem Schweizer Bahnnetz faktisch verboten. [Stra11; BGLE].

Nachdem das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur schon 2007 mit der Veröffentlichung des ersten nationalen Verkehrslärmschutzpakets ein lärmabhängiges Trassenpreissystem (LaTPS) als Anreiz für die Umrüstung der Güterwagen vorgeschlagen hatte, wurde dieses Instrument schließlich mit dem Fahrplanwechsel im Dezember 2012 umgesetzt [BMVBS07a, S. 5, BMVBS11r, DBAG12l]. Das LaTPS enthält eine lärmabhängige Komponente, sodass laute Güterzüge einen Zuschlag von 1 Prozent (ab 2016: 3 Prozent) auf den Trassenpreis zahlen müssen. Bereits auf die LL-Sohle umgerüstete Güterwagen erhalten einen Bonus. Die Einnahmen aus dem LaTPS werden ausschließlich zur Finanzierung des Bonus verwendet. Ziel ist es bis 2020 keine die Lärmgrenzwerte der TSI zum Teilsystem "Fahrzeuge - Lärm" [2006/66/EG] überschreitenden Güterwagen auf dem Schienennetz der DB Netz AG zu haben. [BMVBS13aa, S. 15]

Technische Migrationsprozesse werden zudem speziell im Schienenverkehr durch aufwändige sowie umfangreiche Homologationsbestimmungen (umfangreiche Zulassungsprozedur) verlangsamt. So stellen auch die Entwicklung und Einführung neuer, leiserer Bauteile (wie z. B. Radabsorber) ausgesprochen langwierige Vorgänge dar, weil hiermit verbundene Betriebserprobungen und Zulassungsverfahren international abzustimmen sind. [Gess02, S. 25] Genau an dieser Stelle setzte das jüngst beendete deutsch-französische Kooperationsprojekt "Standardisation of damping technologies for the reduction of rolling noise" (STARDAMP) an. Es beschäftigte sich mit der Beschleunigung des Übergangs von der Entwicklungsphase zum regulären Einsatz neuer Dämpfungtechnologien bei Rad und Schiene. Gleichzeitig sollten die Kosten für Entwicklung und Zulassung gesenkt werden sowie der Markteintritt neuer Anbieter gefördert werden. Das Ergebnis war ein neues, praxistaugliches Verfahren für die Bewertung von Dämpfern für Rad und Schiene. [AsSta13, S. 10 f]
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TU Dresden, Professur für Integrierte Verkehrsplanung und Straßenverkehrstechnik, Prof. Dr.-Ing. Regine Gerike
Zugehörige Wissenslandkarte(n)
Lärmemissionen des Schienenverkehrs (Stand des Wissens: 27.02.2019)
https://www.forschungsinformationssystem.de/?312886
Literatur
[AsSta13] DB Systems GmbH, Société Nationale des Chemins de fer Francais, TU Berlin, Asmussen, B., Starnberg, M., Betgen, B., Bouvet, P., Martinot-Lagarde, A., Margiocchi, F., Aubin, F., Thompson, D., Squicciarini, G., Toward, M., Gerlach, T., Kemp-Lettkamp, C., Venghaus, H., Kitson, P., Pesqueux, L., Carrillo Zanuy, A., Sánchez Martín, C., de Ana Rodríguez, G., Demilly, F. STARDAMP - Standardisation of damping technologies for the reduction of rolling noise, 2013/05/27
[BMVBS07a] o. A. Nationales Verkehrslärmschutzpaket, 2007/02/02
[BMVBS09l] o.A. Nationales Verkehrslärmschutzpaket II - "Lärm vermeiden - vor Lärm schützen", Bonn, 2009/08/27
[BMVBS11r] o. A. Eckpunktevereinbarung zur Einführung eines lärmabhängigen Trassenpreissystems auf dem Schienennetz der DB Netz AG, 2011/07/05
[BMVBS13aa] o. A. Bericht BMVBS zur Verkehrsministerkonferenz -
TOP 4.5/4.2, Aktionsplan Güterverkehr und Logistik, 2013/10/01
[BMVI19as] Bundesministerium für Digitales und Verkehr Lärmschutz im Schienenverkehr, BMVI, Berlin, 2019/05/20
[DBAG02d] o.A. Sparen mit der "Flüsterbremse", veröffentlicht in Themendienst Die Bahn, 2002/05/13
[DBAG10b] Koch, Bernhard Lärmminderung an Bahnstrecken, 2010/03/31
[DBAG12k] o.A. Flüsterbremse reduziert Lärmbelastung, 2012/10/25
[DBAG12l] o.A. Bundesverkehrsministerium und Bahn planen lärmabhängiges Trassenpreissystem, 2012/11/14
[EUKOM09h] u. A. Huggins, Dominic Panorama of Transport, 2009, ISBN/ISSN 1831-3280
[Gess02] Geßner, Rolf, Dr.-Ing. Schienenverkehrslärm-Senkung der Rad/Schiene-Geräusche, veröffentlicht in Eisenbahningenieur, Ausgabe/Auflage 6, 2002, ISBN/ISSN 0013-2810
[Kloc12] Klocksin, J. Zur Einführung eines lärmabhängigen Trassenpreissystems, Berlin, 2012/06/26
[Stra11] o.A. Schweiz: Verbot der Grauguss-Bremssohlen von 2020 an, veröffentlicht in Internationales Verkehrswesen, DVV Media Group GmbH, Hamburg, 2011/11/08, ISBN/ISSN 0020-9511
[Tork12] Torkler, Thomas Bahn demonstriert am Mittelrhein leisere Güterwagen, veröffentlicht in Rhein-Zeitung, Mittelrhein-Verlag GmbH, Koblenz, 2012/11/14
[UIC07d] Hübner, Peter, Dipl.-Ing. Sachstandsbericht 2007 - Lärmreduzierung auf der europäischen Schieneninfrastruktur, Paris, 2007/05, ISBN/ISSN 2746113287
[UIC10a] Oertli, Jakob, Hübner, Peter Bahnlärm in Europa - Sachstandsbericht 2010, Paris, 2010/09, ISBN/ISSN 9782746118829
Weiterführende Literatur
[ScKe00] Kettner, Joachim, Dipl.-Ing., Ostermayer, Ulrich, Dipl.-Ing., Schmeiss, Hans-Joachim, Dr. Dipl.-Ing. Bahn-Agenda 21 - für eine nachhaltige Entwicklung bei der Deutschen Bahn AG, veröffentlicht in Eisenbahningenieurkalender, Tetzlaff Verlag Hamburg, 2000, ISBN/ISSN 3-87814-50809-8
[2006/66/EG] Technische Spezifikation für die Interoperabilität (TSI) zum Teilsystem "Fahrzeuge - Lärm" des konventionellen transeuropäischen Bahnsystems
[BGLE] Bundesgesetz über die Lärmsanierung der Eisenbahnen
Glossar
Schienengüterverkehr
Unter Schienengüterverkehr (SGV) wird der Transport von Gütern mit der Eisenbahn verstanden. Diese werden in Güterzügen unter Verwendung (spezieller) Güterwagen befördert. Diese Verkehre können entweder auf gesonderten Güterverkehrsstrecken oder im Mischverkehr, auf gemeinsam durch den Güter- und Personenverkehr genutzten Strecken, realisiert werden. Leistungen des Schienengüterverkehrs werden häufig als Teil einer Logistikkette in logistische Gesamtkonzepte eingebunden.
Lkw Lastkraftwagen (Lkw) sind Kraftfahrzeuge, die laut Richtlinie 1997/27/EG überwiegend oder sogar ausschließlich für die Beförderung von Gütern und Waren bestimmt sind. Oftmals handelt es sich dabei um Fahrzeuge mit einer zulässigen Gesamtmasse zwischen 3,5 und 12 Tonnen. In Einzelfällen kann die zulässige Gesamtmasse diese Werte jedoch auch unter- beziehungsweise überschreiten, sofern das Kriterium der Güterbeförderung gegeben ist. Lastkraftwagen können auch einen Anhänger ziehen.
Klotzbremse Die Klotzbremse ist aufgrund ihres einfachen Aufbaus und ihrer Wirtschaftlichkeit die am häufigsten verwendete Reibungsbremse bei Eisenbahnwagen im Schienengüterverkehr. Als Reibfläche wird die Radlauffläche genutzt. Die Sohle des Bremsklotzes besteht dabei entweder aus Grauguss oder moderneren Verbundstoffen (K- oder LL-Sohle).
Technical Specification for Interoperability Die Technical Specification for Interoperability (TSI) machen für Teilsysteme bzw. Teile von Teilsystemen der transeuropäischen (Hochgeschwindikgkeits-)Eisenbahnsysteme Vorgaben, um deren grundsätzliche (technische) Eignung sowie die Kompabilität untereinander zu gewährleisten. Dabei handelt es sich um eine unionsrechtliche, technische Vorschrift der Europäischen Kommission.
Betriebskosten
Betriebskosten sind laufende Aufwendungen, die im Zusammenhang mit der Erbringung von Verkehrsleistungen entstehen. Hierzu zählen zum Beispiel Aufwendungen für Energie, Personal, oder Infrastrukturnutzung.
LL-Bremssohle
Eine LL-Bremssohle (eng. für wenig Lärm, wenig Abrieb = Low noise, Low friction) ist eine Verbundstoff-Bremssohle und stellt den zentralen Bestandteil der bei Eisenbahngüterwagen verwendeten Klotzbremse dar. Sie sind im Vergleich zur technologisch veralteten Grauguss-Bremssohle deutlich leiser und stellen eine preisgünstige Alternative zur Umrüstung mit der sog. Komposit-Bremssohle (K-Sohle) dar.

Auszug aus dem Forschungs-Informations-System (FIS) des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur

https://www.forschungsinformationssystem.de/?49442

Gedruckt am Freitag, 29. März 2024 06:07:18