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Pfadabhängigkeiten und Steuerbarkeit großer Systeme: Praxisbeispiel Umstellung von Internet Protocol version 4 auf Internet Protocol version 6 und Fahrzeugkommunikation

Erstellt am: 25.06.2015 | Stand des Wissens: 23.04.2020
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Bauhaus-Universität Weimar, Professur Verkehrssystemplanung, Prof. Dr.-Ing. Plank-Wiedenbeck

Digitale Infrastrukturen und digitale Dienste bauen auf einer Vielzahl technischer Komponenten auf, die miteinander interagieren. Da viele dieser Komponenten mit hohen Investitionskosten einhergehen und eine nicht unerhebliche Lebensdauer aufweisen, ergeben sich technische Pfadabhängigkeiten, die teilweise nur schwer bzw. mit hohem Investitionsaufwand zu überwinden sind. Um Investitionskosten zu sparen, kommt zudem der Mitnutzung bereits bestehender Komponenten eine hohe Bedeutung zu. Die Mitnutzung der Kupferkabel für die Übertragung von Daten hat es zwar auf der einen Seite ermöglicht, zu vergleichsweise geringen Kosten Zugang zum Internet anbieten zu können, auf der anderen Seite können hierdurch aber auch Investitionen in alternative Infrastrukturen wie Glasfaser (bis zum Hausanschluss) gehemmt werden. Neben Investitionskosten können durch die Mitnutzung bestehender Elemente auch Transaktionskosten gespart werden, da über die Ausgestaltung (beispielsweise von Schnittstellenstandards) nicht mehr verhandelt werden muss und oftmals bereits bestehende Verträge erweitert werden können.
Der Wechsel von Internet Protocol version 4 (IPv4) auf Internet Protocol version 6 (IPv6) stellt ein Beispiel für die Einführung eines neuen Standards in ein bestehendes System dar und stellte eine große Herausforderung für die globale Internetwirtschaft dar. Das Internet Protocol (IP) spezifiziert insbesondere den Adressraum des Internets. IPv4 stellt ca. 4,3 Milliarden Adressen zur Verfügung [ZWB13]. Aufgrund des starken Anwachsens der Nachfrage nach IP-Adressen (unter anderem durch die hohe Anzahl mobiler Geräte) ist dieser Adressraum nun weitgehend aufgebraucht. Aus diesem Grund wurde bereits 1998 der Nachfolgestandard IPv6 entwickelt, der eine deutlich höhere Anzahl an IP-Adressen zur Verfügung stellen kann. Seit 2009 werden durch die für Europa zuständige Vergabestelle RIPE (Réseaux IP Européens) IP-Adressen der Version 6 vergeben. Allerdings ist die Verbreitung des neuen Standards nach wie vor sehr gering. Im April 2014 lief nur etwa 3,5 Prozent des weltweiten Internetverkehrs über IPv6 [OECD14b]. In den darauffolgenden Jahren stieg der Verbreitungsgrad allerdings an. Eine Übersicht über die IPv6-Verbreitung kann nachfolgender Abbildung entnommen werden.
372311__IPv6Verbreitung_2020-04-23.pngAbb. 1: Verbreitung des IPv6-Standards in ausgewählten Ländern Anfang 2020 [eigene Darstellung nach AKA20]
Ein zentrales Hindernis für die Einführung von IPv6 stellen die zahlreichen Anpassungen dar, die in Routern, Domain-Name-System-Servern, bei der Software sowie bei zahlreichen Diensten durchzuführen sind. Zudem müssen Internetinhalte in der Übergangszeit parallel über IPv4 und IPv6 abrufbar sein, sodass durch die Investition in IPv6 der Betrieb der IPv4 zunächst nicht ersetzt werden kann. Eine koordinierte Einführung von IPv6 wird zusätzlich dadurch erschwert, dass die Kosten und Nutzen zwischen den beteiligten Akteuren ungleich verteilt sind und dass der Nutzen mit der Anzahl der Akteure, die IPv6 nutzen ansteigt, dass also Netzwerkeffekte vorliegen. Verschiedene Staaten und Gremien wie die Internet Society (ISOC) versuchen, die Verbreitung von IPv6 durch Zurverfügungstellung von Information über technische Aspekte sowie Kosten und Nutzen zu fördern. Inwieweit weitere Maßnahmen durch öffentliche Akteure angebracht sind und sinnvoll umgesetzt werden können, ist zum jetzigen Zeitpunkt nur schwer zu beurteilen.

Im Rahmen der Kommunikation von Fahrzeugen mit anderen Fahrzeugen sowie mit straßenseitiger Infrastruktur (Car-to-X-Kommunikation) stellen sich Fragen der Mitnutzung bestehender Infrastrukturen und Komponenten. Insbesondere bei der Datenübertragung ist zu entscheiden, ob eine spezielle Funkinfrastruktur für diesen Zweck aufgebaut werden soll (zum Beispiel über ein spezielles WLAN), oder ob die bestehenden Mobilfunknetze genutzt werden sollen. Zudem können bereits existierende Endgeräte (beispielsweise Smartphones) oder bereits für andere Zwecke erhobene Daten (wie Verkehrsdaten) verwendet werden. Ein Vorteil der Nutzung bereits existierender Systemelemente bezieht sich auf die zeitliche Verfügbarkeit, da die, mitunter sehr langwierige, Aufbauphase für die Ausstattung mit diesen Komponenten entfällt. Zudem können elementare Kostenvorteile bestehen. Sofern bereits existierende Systemelemente noch freie Kapazitäten besitzen, stellt sich die Frage, welche Kosten für die Nutzung dieser Kapazitäten für die Umsetzung von Car-to-X-Anwendungen anfallen würden. Beispielsweise dürften die Zusatzkosten für die Installation und Nutzung einer weiteren Applikation auf einem bereits vorhandenen Smartphone bei einem Nutzer keine weiteren Kosten erzeugen.
Bei der Übertragung von Daten für Car-to-X-Anwendungen über Mobilfunk stellt sich die Frage, inwiefern dieses zusätzliche Datenvolumen über einen ohnehin schon vorhandenen Mobilfunkvertrag (im Sinne eines bereits existierenden Systemelements) bereits abgegolten ist. Auch könnten bereits in einem anderen Zusammenhang erhobene Daten aufgrund der Duplizierungskosten von Null prinzipiell zu einem Preis von Null verfügbar sein.
Nachteile können darin bestehen, dass bestimmte Dienste beim Rückgriff auf existierende Systemelemente nur in einer vergleichsweise geringeren Qualität angeboten werden könnten. Sofern für Car-to-X-Anwendungen eine technische Umsetzung vorgesehen ist, bei der das Endgerät fest mit dem Fahrzeug verbunden ist, besteht außerdem eine technische Bindung des Endgeräts an das Fahrzeug. Hieraus ergeben sich potentiell große Herausforderungen hinsichtlich der maximalen Geschwindigkeit, mit der ein Car-to-X-(Daten-)Netz aufgebaut werden kann. Unter der Annahme, dass keine Nachrüstung des bereits existierenden Fahrzeugbestands möglich ist, kann die notwendige Kombination aus Fahrzeug und Endgerät nämlich ausschließlich in Neufahrzeuge eingebaut werden. Somit besteht eine zwingende Bindung an Ersatzinvestitionen. Da Ersatzinvestitionen in Fahrzeuge aber nur in vergleichsweise langen Zyklen erfolgen, kann auch die Ausstattungsrate mit Endgeräten nur sehr langsam ansteigen. Zudem ist zu berücksichtigen, ob Endgeräte als Serien- oder als optionale Ausstattung angeboten werden und ob fahrzeugseitige Endgeräte nur für Fahrzeugneuanläufe oder auch für bereits existierende Baureihen angeboten werden. Beispielrechnungen haben gezeigt, dass bei einer Ausrüstung sämtlicher Typenneuzulassungen nach zehn Jahren erst knapp 50 Prozent aller Fahrzeuge ausgerüstet wären [SIMTD13, Abbildung 23, S. 85]. Diese Schwierigkeiten könnten prinzipiell abgemildert werden, falls auch eine Nachrüstung von Endgeräten möglich ist.
Ansprechpartner
Bauhaus-Universität Weimar, Professur Verkehrssystemplanung, Prof. Dr.-Ing. Plank-Wiedenbeck
Literatur
[AKA20] Akamai Technologies (Hrsg.) Visualisierung der IPv6-Einführung, 2020
[OECD14b] OECD (Hrsg.) The Economics of Transition to Internet Protocol version 6 (IPv6), veröffentlicht in OECD Digital Economy Papers, Ausgabe/Auflage No. 244, OECD Publishing, 2014
[SIMTD13] SIM-TD - Sichere Intelligente Mobilität - Testfeld Deutschland (2013) (Hrsg.) Ökonomische Analyse; Deliverable D5.5 (Teil B-4) des Forschungsprojekts Sichere Intelligente Mobilität - Testfeld Deutschland, 2013/09/19
[ZWB13] Zarnekow, Rüdiger, Wulf, Jochen, von Bornstaedt, Falk Internetwirtschaft - Das Geschäft des Datentransports im Internet, 2013
Weiterführende Literatur
[BVA14] Bundesverwaltungsamt (Hrsg.) BMI und BVA veröffentlichen weitere Ergebnisse des IPv6 Forschungsprojekts, 2014
Glossar
App
Ist eine Abkürzung für den Fachbegriff Applikation (App) und bezeichnet eine Anwendungssoftware, die für mobile Endgeräte, wie Smartphone oder Tablet-PC entwickelt wurde. Apps können als Zusatzsoftware auf mobilen Endgeräten installiert werden und erweitern dadurch deren Funktionsumfang. Je nach Betriebssystem kann der Nutzer auf eine Vielzahl von mobilen Applikationen auf dem vom Betriebssystem bereitgestellten Marktplatz kostenpflichtig oder kostenlos zugreifen.
WLAN
Als Wireless Local Area Network (WLAN, deutsch: drahtloses lokales Netzwerk) wird ein lokales Funknetz und dessen verschiedene Techniken und Standards bezeichnet.
Car-to-X zusammenfassender Begriff für Technologien, die Fahrzeug-zu-Fahrzeug- (Car-to-Car) und Fahrzeug-zu-Infrastruktur-Kommunikation (Car-to-Infrastructure) ermöglichen.
IP Das Internet Protocol (IP) ist ein verbindungsloses paketvermittelndes Netzwerkprotokoll zur Übermittlung von Datagrammen im Internet. Es stellt somit die Grundlage des Internets dar.

Auszug aus dem Forschungs-Informations-System (FIS) des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur

https://www.forschungsinformationssystem.de/?452595

Gedruckt am Freitag, 19. April 2024 03:54:49