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Spannungsfelder bei der Organisation von Gefahrguttransporten

Erstellt am: 10.06.2015 | Stand des Wissens: 23.02.2023
Synthesebericht gehört zu:
Ansprechpartner
Technische Universität Hamburg, Institut für Verkehrsplanung und Logistik, Prof. Dr.-Ing. H. Flämig

Statistische Erhebungen zu Gefahrgutvorfällen enthalten zumeist keine Angaben zu deren genauen Ursachen (siehe zum Beispiel [Destatis21c]). Praktisch gar nicht erhoben wird, wie es zu den direkten Unfallursachen oder Verstößen (zum Beispiel zu falscher Deklarierung oder unzulässiger Beladung) kommt beziehungsweise welche Interessenskonflikte beteiligter Akteure diese beeinflusst haben könnten. Häufig bleibt die Analyse von Gefahrgutunfall- und -vorfallursachen deshalb anekdotisch. Dies ist insofern problematisch, da "[d]as größte Potenzial zur Erhöhung der Sicherheit in der Supply Chain [...] in der Ursachenforschung [liegt]" [UeHs13]. Aufgrund der unvollständigen Datenlage werden in diesem Synthesebericht Probleme bei der Organisation von Gefahrguttransporten anhand von Beispielen erläutert, die der aktuellen Praxis der Gefahrgutlogistik entnommen sind.

Mangelnde Kenntnisse der Vorschriften und bewusste Missachtung am Beispiel der Kurier-Express-Paket- (KEP) Branche
In der KEP-Branche nehmen Gefahrgutverstöße zu, obwohl KEP-Dienstleister viele Gefahrgüter vom Transport ausschließen. Da Vorfälle wie Beschädigungen oder Leckagen meistens erst beim Empfänger auffallen und von diesem nicht ordnungsgemäß gemeldet werden, wird zudem von einer hohen Dunkelziffer ausgegangen [Kle14]. Typische Mängel sind falsche oder fehlende Kennzeichnungen und Deklarierungen, ungeeignete Verpackungen sowie fehlende Hinweise und (Verpackungs-)Hilfen für Retouren [Kle14]. Ursache hierfür ist die mangelnde Kenntnis seitens des Absenders, also des Versandhändlers, hinsichtlich des geltenden Gefahrgutrechts. Diese gehen von der falschen Annahme aus, dass wegen der geringen Mengen im Versandhandel die Gefahrgutvorschriften nicht gelten. In der Praxis werden Mindestmengen jedoch schnell überschritten. Neben Unwissenheit missachten einzelne Versandhändler geltende Gefahrgutvorschriften, um den höheren operativen Aufwand zu umgehen und Versandkosten einzusparen [Kle14].

Nicht eindeutig geklärte Pflichten zwischen Beteiligten an Gefahrguttransporten
Werden Gefahrgut-Transportdienstleistungen vergeben, wird nicht immer eindeutig geklärt, in welcher Funktion Unternehmen am Gefahrguttransport beteiligt sind. Dies kann dazu führen, dass es bei der operativen Durchführung des Transports zu Fehlern kommt, zum Beispiel in Form von unvollständigen Beförderungs- und Begleitdokumenten. Im Schadensfall sehen sich Beteiligte dann unerwarteten Bußgeldforderungen gegenüber. Insbesondere ist nicht immer klar, wer Absender und Auftraggeber des Absenders ist [WgSr13]. Gemäß Gefahrgutverordnung Straße, Eisenbahn und Binnenschifffahrt (GGVSEB) ist Auftraggeber des Absenders derjenige, der einen Absender beauftragt als solcher aufzutreten und Gefahrgut selbst oder durch einen Dritten zu versenden [GGVSEB]. Er hat unter anderem die Pflicht, den Absender schriftlich auf gefährliche Güter hinzuweisen. Absender ist, wer im eigenen Namen oder im Auftrag Gefahrgut versendet. Er hat unter anderem die Pflicht, den Beförderer auf gefährliche Güter hinzuweisen und ist für die Beförderungspapiere verantwortlich [GGVSEB].
Üblicherweise tritt ein Spediteur als Absender gegenüber seinem Auftraggeber, zum Beispiel einem Produktionsunternehmen, auf. Es sind aber auch andere Szenarien denkbar. Vermittelt Spediteur A den Auftrag eines Kunden an Spediteur B (zum Beispiel an einen Spezialisten für bestimmte Gefahrgüter), wird Spediteur A zum Auftraggeber und muss dessen Pflichten erfüllen. Wendet sich ein Produktionsunternehmen direkt an einen Gefahrgutbeförderer, tritt Ersteres als Absender auf und hat seinerseits die Pflicht, Beförderungspapiere auszustellen. Um Unklarheiten hinsichtlich der Verantwortlichkeiten zu vermeiden, haben beteiligte Akteure die Möglichkeit, Verantwortungen gezielt, möglichst in schriftlicher Form, zu übertragen [WgSr13].

Informationsdefizite in der Gefahrgutlogistikkette aufgrund konfligierender rechtlicher Regelungen
Aufgrund der potentiellen Risiken, die von Gefahrgütern ausgehen, ist die Weitergabe von relevanten Informationen, wie Klassifizierung und Menge, von besonderer Bedeutung und stellt für viele Akteure eine zentrale Pflicht nach GGVSEB dar [GGVSEB]. Es kann jedoch zu Situationen kommen, in denen Logistikdienstleister dazu verpflichtet sind, Informationen weiterzugeben, obwohl sie zu diesen in der Praxis keinen Zugang haben. Ein Beispiel hierfür stellt die Begasung von Containern zum Schutz von Waren vor Insekten- oder Schimmelbefall dar [FeNl09]. Gemäß Paragraf 18 [GGVSEB] hat ein Absender den Verlader auf die Begasung schriftlich hinzuweisen. Im internationalen Gefahrgutrecht hingegen ist die schriftliche Mitteilung einer Begasung nur erforderlich, wenn der Container zuvor nicht vollständig belüftet wurde [Mue14]. Dies kann zu dem Fall führen, dass ein deutscher Spediteur, der den Weitertransport eines begasten, aber zuvor belüfteten Importcontainers von einem Seehafen organisieren will, seinen Informationspflichten über die Begasung nach GGVSEB nicht nachkommen kann, da er von dem Seefrachtspediteur darauf nicht hingewiesen wurde [GGVSEB]. Seiner Mitteilungspflicht gegenüber dem Verlader, hier der Betreiber des Containerterminals, kann er in diesem Fall nicht nachkommen, da er selbst über die Begasung keine Kenntnis hat [Mue14].
Ansprechpartner
Technische Universität Hamburg, Institut für Verkehrsplanung und Logistik, Prof. Dr.-Ing. H. Flämig
Zugehörige Wissenslandkarte(n)
Gefahrgutlogistik im Spannungsfeld gegensätzlicher Anforderungen (Stand des Wissens: 23.02.2023)
https://www.forschungsinformationssystem.de/?450386
Literatur
[Destatis21c] Statistisches Bundesamt (Hrsg.) Fachserie 8 Reihe 1.4 Verkehr - Gefahrguttransporte - Ergebnisse der Gefahrgutschätzung 2018, 2021/12/22
[FeNl09] Dr. Friederike Neisel Begaste Container - ein Problem nicht nur in Seehäfen, 2009/03/27
[Kle14] Stefan Klein Das unwissende Wesen, veröffentlicht in gefährliche ladung, Ausgabe/Auflage 07/2014, 2014
[Mue14] Prof. Dr. Norbert Müller Pflicht ohne Kür, veröffentlicht in gefährliche Ladung, Ausgabe/Auflage 7, Storck Verlag Hamburg, 2014/07
[UeHs13] Uwe Heins Fakten statt Seemannsgarn, veröffentlicht in gefährliche ladung, Ausgabe/Auflage 2, Storck Verlag Hamburg, 2013/02
[WgSr13] Wolfgang Spohr Besser eindeutig festlegen, veröffentlicht in gefährliche ladung, Ausgabe/Auflage 9, Storck Verlag Hamburg, 2013/09
Rechtsvorschriften
[GGVSEB] Gefahrgutverordnung Straße, Eisenbahn und Binnenschifffahrt - GGVSEB
Glossar
KEP Kurier, Express, Paket - Bereich in der Transportwirtschaft, der als ein Teilmarkt in der Logistik angesehen wird. Anbieter von Kurier-, Express- und Paketdiensten (KEP) transportieren vornehmlich Sendungen mit relativ geringem Gewicht (von ca. 2 kg bis ca. 31 kg) und Volumen, wie z.B. Dokumente, Päckchen und Kleinstückgüter. Große KEP Anbieter wenden sich auch vermehrt den Märkten der Kontraktlogistik und Fulfillment Dienstleistungen zu.
Verlader Der Verlader ist derjenige Teilnehmer in der Transportkette, der die Ladung/Transportgut erstmals aufgibt. Unter einem Verlader versteht man ein Unternehmen, das Logistikdienstleistungen (Transport, Verladen etc.) bei einem Logistikdienstleister in Auftrag gibt.
Logistikdienstleister Logistikdienstleister (abgekürzt: LDL; Englisch: logistics service provider) bezeichnet die Weiterentwicklung des traditionellen Speditionsgeschäfts. Über Transport, Umschlag und Lagerung (TUL) hinaus bietet der LDL weitere Leistungen und Lösungen an, zum Beispiel kundenbezogene Lagerung, Kommissionierung, Assemblierung, Fakturierung usw. LDL und 3PL werden häufig synonym verwendet.
Supply Chain Als Supply Chain (Liefer- oder Wertschöpfungskette) bezeichnet man ein organisationsübergreifendes Netzwerk, welches als Gesamtsystem Güter für einen bestimmten Markt hervorbringt. Die heutigen Supply Chains sind aufgrund der Vielzahl von beteiligten Zulieferern, Dienstleistern und Kunden - die wiederum an anderen Supply Chains beteiligt sein können - sehr komplexe, interdependente Gebilde. Treffender müsste daher eine Supply Chain, aufgrund der häufig vorkommenden netzwerkartigen Struktur der zusammenarbeitenden Unternehmen, als "Supply Network" bezeichnet werden.
Seehafenterminal
In einem Containerterminal erfolgt der Umschlag von Containern, Wechselbehältern, Wechselbrücken oder Sattelaufliegern und ähnlichen Ladeeinheiten im Hafen. Weiterhin kann auch Projektgeschäft, z.B. übergroße Ladungen, umgeschlagen werden.
Zusätzlich zu den Containerterminals umfasst der Begriff des Seehafenterminals auch andere Ladungs- und Terminalarten, wie z.B. Massengutterminals oder Flüssiggutterminals.
Charakteristisch für Seehafenterminals ist die Anbindung an das Wasser und mindestens einen weiteren Verkehrsträger.
Spediteur Spediteure fungieren als Intermediäre zwischen Versender und Transporteur bzw. Frachtführer. Sie „besorgen” den Transport. Hierunter fallen insbesondere die Festlegung auf Verkehrsmittel und die Beauftragung ausführender Unternehmen.

Auszug aus dem Forschungs-Informations-System (FIS) des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur

https://www.forschungsinformationssystem.de/?450283

Gedruckt am Mittwoch, 24. April 2024 11:13:08