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Regionale Erschließungsqualität des Schienenpersonenfernverkehrs

Erstellt am: 10.05.2013 | Stand des Wissens: 24.10.2018
Synthesebericht gehört zu:
Ansprechpartner
TU Dresden, Professur für Integrierte Verkehrsplanung und Straßenverkehrstechnik, Prof. Dr.-Ing. Regine Gerike

Seit der Bahnreform 1994 unterliegt der daraus hervorgegangene und privatwirtschaftlich geführte Deutsche Bahn AG Konzern (DB AG) dem Prinzip des betriebsökonomischen Handelns. Daher ist das quasi-monopolistische Eisenbahnverkehrsunternehmen (EVU), anders als im Bereich des Schienenpersonennahverkehrs (SPNV), im Schienenpersonenfernverkehr (SPFV) dem Prinzip der Eigenwirtschaftlichkeit unterworfen. Die DB AG wurde daher in den letzten zwei Jahrzehnten durch zum Teil umstrittene Maßnahmen modernisiert und ihr wirtschaftliches Handeln auf den freien Wettbewerb im deutschen SPFV-Markt ausgerichtet. Im Mittelpunkt der unternehmerischen Anstrengungen stand vor allem die Umsetzung hochwertiger SPFV-Angebote innerhalb des seit Ende der achtziger Jahre entstandenen Hochgeschwindigkeitsnetzes für den Intercityexpress (ICE).
Es besteht die Kritik, dass mit dem Wegfall von flächenerschließenden SPFV-Angeboten der DB AG eine teilweise erhebliche Verschlechterung der regionalen Erschließungsqualität stattgefunden habe und dieses Defizit aufgrund des fehlenden Wettbewerbs im SPFV auch nicht durch konkurrierende EVU ausgeglichen werden könne. Um diese Fehlentwicklung kompensieren zu können, müssten die Bundesländer mit Hilfe der vom Bund zur Verfügung gestellten Regionalisierungsmittel erhöhte Aufwendungen im SPNV tätigen.
Fundierte und belastbare Aussagen über die tatsächliche Qualität der Anbindung von Städten und Regionen durch den SPFV existieren nur in begrenztem Umfang. Viele herkömmliche Ansätze zur Analyse der Erschließungsqualität des SPFV basieren auf sogenannten konventionellen Betrachtungen der hierfür zentralen Kenngröße Erreichbarkeit. Die dabei praktizierte Verwendung heterogener Erreichbarkeitsindikatoren und die fehlende Möglichkeit, diese in ihrer Gesamtaussage beurteilen zu können, führen immer wieder zu Kritik und der Forderung, individuelle Erreichbarkeitsindikatoren (zum Beispiel Umsteigezwang) in die Berechnungen einfließen zu lassen.
Die konzeptionelle Grundlage für eine sachgerechte Beurteilung der Qualität eines SPFV-Angebots im Rahmen individueller Erreichbarkeitsmodelle bilden die getrennte Berücksichtigung materieller bzw. immaterieller Infrastrukturbestandteile eines Eisenbahnverkehrsangebotes (zum Beispiel Eisenbahnbetriebsanlagen beziehungsweise Fahrplanangebot) sowie die Einführung sog. nutzenbasierter Indikatoren. Durch diesen Ansatz ist es möglich, die für die Wahl von SPFV-Angeboten ausschlaggebenden individuellen Fahrgastpräferenzen zu berücksichtigen und die Qualität des Angebots durch eine abschließende Indexbildung vergleichbar zu machen.

Aktuelle Analysen der regionalen Erschließungsqualität
des deutschen SPFV bzw. zur Erreichbarkeit deutscher Großstädte durch den SPFV gründen bereits auf nutzenbasierten bzw. optimierten und ausdifferenzierten konventionellen Erreichbarkeitsmodellen [Bung11; HeEv12]. Die Untersuchungen fassen die Indikatoren in einer finalen Synthese zum Index der Erschließungsqualität bzw. zu einem Hauptkomponentenindex der Erreichbarkeit zusammen und zeichnen in ihren Ergebnissen ein relativ ähnliches Bild der Qualität der Erschließung der Bundesrepublik Deutschland durch das SPFV-Angebot der DB AG. Dabei ist die Lagegunst einer Stadt beziehungsweise Region hinsichtlich des ICE-Taktnetzes ausschlaggebend für eine hohe Erschließungsqualität. Zudem verstärkt hoher Umsteigeaufwand die Disparität zwischen zentralen und peripheren Regionen hinsichtlich ihrer Erreichbarkeit durch den SPFV.
Im Hinblick auf die Erkenntnisse zu den bestehenden Ausprägungen und Disparitäten der Erschließungsqualität des SPFV in Deutschland kann die Schlussfolgerung gezogen werden, dass die Implementierung nutzenbasierter Erreichbarkeitsmodelle im Bereich infrastruktureller Planungsvorgänge (beispielsweise Bundesverkehrswegeplanung) die Investitionspolitik durchaus effizienter gestalten sowie die Erreichbarkeit im SPFV signifikant verbessern kann. Auch die Einführung eines deutschlandweiten Taktfahrplans (Deutschland-Takt) kann den Umsteigeaufwand deutlich reduzieren und damit zu einer günstigeren Anbindung peripherer Regionen führen.
Ansprechpartner
TU Dresden, Professur für Integrierte Verkehrsplanung und Straßenverkehrstechnik, Prof. Dr.-Ing. Regine Gerike
Zugehörige Wissenslandkarte(n)
Regionale Erschließungsqualität des Schienenpersonenfernverkehrs (Stand des Wissens: 27.02.2019)
https://www.forschungsinformationssystem.de/?409784
Literatur
[Bung11] Bunge, Stephan Analyse und Bewertung der regionalen Erschließungsqualität im Schienenpersonenfernverkehr, veröffentlicht in Schienenverkehrsforschung an der Technischen Universität Berlin, Ausgabe/Auflage 3/2011, Eurailpress in DVV Media Group, Hamburg, 2011
[HeEv12] Hesse, Claudia, Evangelinos, Christos, Püschel, Ronny, Gröscho, Sergej Die verkehrliche Erreichbarkeit deutscher Großstädte: Eine empirische Analyse, veröffentlicht in Zeitschrift für Verkehrswissenschaft, Ausgabe/Auflage 3/2012, Verkehrs-Verlag J. Fischer, Düsseldorf, 2012, ISBN/ISSN 0044-3670
Glossar
Deutschland-Takt Der Deutschland-Takt ist ein Ansatz zur netzweiten Optimierung des Schienenpersonenverkehrs in Deutschland. Den Kernpunkt bildet hierbei die Einführung eines Integralen Taktfahrplans (ITF), die notwendigerweise mit koordinierten Infrastrukturverbesserungen verbunden ist. Das Ziel soll eine Steigerung der Fahrgastzahlen durch ein attraktiveres, vertaktetes und gut verknüpftes Verkehrsangebot sowohl im Schienenpersonenfernverkehr als auch Schienenpersonennahverkehr sein.
Schienenpersonennahverkehr
Gemäß Regionalisierungsgesetz (RegG) § 2 handelt es sich bei einer auf der Schiene erbrachten Beförderungsdienstleistung um ein Angebot des Nahverkehrs, "wenn in der Mehrzahl der Beförderungsfälle [...] die gesamte Reiseweite 50 Kilometer oder die gesamte Reisezeit eine Stunde nicht übersteigt" [RegG, § 2]. Zur Erfüllung der Daseinsvorsorge wird der Schienenpersonennahverkehr (SPNV) von den Ländern bestellt und unterstützt. Der SPNV ist eine Sonderform des öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV). Der ÖPNV ist juristisch im Personenbeförderungsgesetz (PBefG) definiert, der SPNV zusätzlich noch im Allgemeinen Eisenbahngesetz (AEG).
Eigenwirtschaftlichkeit
Der Begriff der Eigenwirtschaftlichkeit beschreibt, im Sinne der Erbringung von Verkehrsdienstleistungen durch ein öffentliches Unternehmen, die alleinige Kostendeckung der dazu notwendigen finanziellen Aufwendungen durch Beförderungserlöse (Fahrscheinverkauf) und/oder Ausgleichs- bzw. Erstattungszahlungen (z. B. Subventionen). In Deutschland sind bspw. Verkehrsleistungen im öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) nach § 8 Absatz 4 PBefG eigenwirtschaftlich zu erbringen.
EVU Eisenbahnverkehrsunternehmen
Schienenpersonenfernverkehr
Der Schienenpersonenfernverkehr (SPFV) ist die Beförderung von Reisenden mit Eisenbahnzügen über längere Strecken mit mehr als einer Stunde Fahrzeit oder 50 km Entfernung. Im Gegenzug zum Schienenpersonennahverkehr (SPNV) bzw. dem Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) wird der SPFV eigenwirtschaftlich betrieben und muss sich betriebsökonomisch selbst tragen.
Eisenbahnverkehrsunternehmen Eisenbahnverkehrsunternehmen (EVU) sind öffentliche Einrichtungen oder privatrechtlich organisierte Unternehmen, die Eisenbahnverkehrsleistungen erbringen. "Eisenbahnverkehrsunternehmen" stellt einen europarechtlichen Begriff dar, welcher durch nationales Recht in Form von § 2 (1) des Allgemeinen Eisenbahngesetzes (AEG) konkretisiert wird.

Auszug aus dem Forschungs-Informations-System (FIS) des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur

https://www.forschungsinformationssystem.de/?409762

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