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Ältere ÖPNV-Nutzer und deren Ansprüche

Erstellt am: 28.09.2012 | Stand des Wissens: 01.03.2019
Synthesebericht gehört zu:
Ansprechpartner
TU Dresden, Professur für Integrierte Verkehrsplanung und Straßenverkehrstechnik, Prof. Dr.-Ing. Regine Gerike

Trotz der Verbesserungen in der Gestaltung von Anlagen des Öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) können folgende Gründe für eine geringe Akzeptanz, insbesondere von älteren Autofahrern, angeführt werden [Li05, S. 11]:
  • schlechte Zugänglichkeit,
  • einhergehend mit langen Fußwegen zu Haltestellen,
  • Hindernisse beim Ein- und Aussteigen (zum Beispiel hohe Stufen),
  • mangelndes Wissen über das ÖPNV-Angebot vor Ort,
  • mangelnde Nutzungskompetenzen,
  • ÖPNV als Stressfaktor (langes Warten, Gedränge, Sitzplatzmangel) sowie
  • Angst vor Kriminalität, welche bei älteren Frauen größer ist als bei älteren Männern und häufig zum Verzicht öffentlicher Verkehrsmittel führt.
Gegen mangelndes Wissen älterer Verkehrsteilnehmer über das ÖPNV-Angebot vor Ort wurde das Projekt "PatenTicket 2.0" von September 2010 bis Oktober 2011 als Instrument des Empfehlungsmarketing initiiert. Im Rahmen des vom Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (BMVBS) geförderten Projektes erhielten ältere Kundinnen und Kunden, die ein ÖPNV-Jahresabonnement besaßen, eine zusätzliche Netzkarte. Diese drei Monate gültige Netzkarte sollte an ÖPNV-unerfahrene Freundinnen und Freunde sowie Verwandte ab 60 Jahren verschenkt werden. Die Kundinnen und Kunden sollten ihnen weiterhin bei der ÖPNV-Nutzung beratend zur Seite stehen. Dieses Projekt war unter anderem in Köln sehr erfolgreich. 30 Prozent der Patenkinder erwarben nach der dreimonatigen Fahrtzeit eine Zeitkarte [KaSc12].
Um das Mobilitätsbedürfnis aller Personen befriedigen zu können, ist der ÖPNV als Verkehrsmittel unerlässlich. Deshalb muss dieser auch die Mobilität älterer, gesundheitlich zum Teil stark eingeschränkter Personen sichern, woraus sich spezielle persönliche Anforderungen ergeben. Dies sind insbesondere Anforderungen an die Sicherheit (hierbei vor allem in den Abendstunden), die Unabhängigkeit und die Erschließung des Wohnumfeldes sowie darüber hinaus die Forderungen nach einer möglichst hohen Taktfrequenz, Haltestellen- und Liniendichte, das heißt kurze Wege [MaSw08; Li05, S. 12].
In Anbetracht der Alterung der Bevölkerung gibt es zahlreiche neue Anforderungen an den ÖPNV, die durch die Zunahme der Personengruppe ab 65 Jahren auch künftig beachtet werden müssen. So sind beispielsweise an Haltestellen folgende Elemente bei der Gestaltung wichtig [Busch08]:
  • Rampen und Aufzüge,
  • Hochbahnsteige ohne Höhendifferenzen beim Aussteigen (siehe Abbildung 1),
  • Blindenleitsysteme,
  • Fahrgastinformationen über Lautsprecher und Displays sowie
  • Taktile Felder und Aufmerksamkeitsfelder (siehe Abbildung 2).


    Hochbahnsteig im HaltestellenbereichAbbildung 1: Hochbahnsteig im Haltestellenbereich

    Taktil wahrnehmbare Felder und Leitstreifen in HaltestellenbereichenAbbildung 2: Taktil wahrnehmbare Felder und Leitstreifen in Haltestellenbereichen

Auch ergeben sich neben den Anforderungen an Haltestellen solche an die Fahrzeuge des ÖPNV:
  • Einsatz von Hochflurfahrzeugen mit ausklappbarer Rampe,
  • Einsatz von Niederflurfahrzeugen,
  • "Kneeling-Funktion", das hydraulische Absenken beziehungsweise Neigen des Busses sowie
  • breitere Türen.
Bei älteren Menschen besteht der Bedarf nach Sicherheitspersonal an den Haltestellen sowie eines Fahrzeugbegleiters. Zum Beispiel existiert in Dresden ein Begleitdienst des ÖPNV-Anbieters für ältere und behinderte Menschen mit gültigem Fahrschein. Die Nutzer haben dabei keine zusätzlichen Kosten.
Auch die Saarbahn GmbH bietet mobilitätseingeschränkten Fahrgästen im Rahmen des Projektes "mobisaar" vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) Hilfe beim Ein-, Aus- und Umsteigen sowie an Fahrscheinautomaten an. Dies erfolgt durch den Einsatz von Mobilitätshelfern sowie altersgerechter Informations- und Kommunikationstechnik. Der Service ist für mobilitätseingeschränkte Menschen mit einem gültigen Fahrschein kostenlos [Mobi19].
Weiterhin ist die Anbindung von Senioren-, Alten- und Pflegeheimen sowie wichtigen Einrichtungen (Ärzte, Einkaufsmöglichkeiten, et cetera) an den ÖPNV von besonderer Bedeutung [Li05, S. 12]. Für ältere Menschen sind ebenfalls eine seniorengerechte Umgestaltung des Umfeldes sowie die rechtzeitige Vermittlung von ÖPNV-Nutzungskompetenzen wichtig.
Speziell sollte bei der Gestaltung von Anlagen und Fahrzeugen des ÖPNV auch auf Zielgruppenmarketing geachtet werden beziehungsweise auf dieses zurückgegriffen werden, denn der ÖPNV wird häufiger durch Frauen genutzt (da diese weniger oft selbst Auto fahren) sowie durch Personen, die keinen Pkw-Zugang haben.
Ansprechpartner
TU Dresden, Professur für Integrierte Verkehrsplanung und Straßenverkehrstechnik, Prof. Dr.-Ing. Regine Gerike
Zugehörige Wissenslandkarte(n)
Ansprüche älterer Verkehrsteilnehmer an die Infrastruktur / Verkehrsraumgestaltung (Stand des Wissens: 01.03.2019)
https://www.forschungsinformationssystem.de/?399156
Literatur
[Busch08] Busch, F., Tsakarestos, A., ÖPNV für in der Mobilität eingeschränkte Personen, veröffentlicht in Jubiläumsband 100 Jahre DVWG, 2008
[KaSc12] Kasper, Birgit, Schubert, Steffi , et al. Das PatenTicket 2.0, 2012
[Li05] Limbourg, M. Ansätze zur Verbesserung der Mobilitätsbedingungen für ältere Menschen im Straßenverkehr, veröffentlicht in in motion 2: Humanwissenschaftliche Beiträge zur Verkehrssicherheit und Ökologie des Verkehrs, 65PLUS - MIT AUTO MOBIL?, AFN und INFAR, Köln und Salzburg, 2005, ISBN/ISSN 3-9502010-1-7
[MaSw08] Mai, R., Swiaczny, F. Demographische Entwicklung - Potenziale für Bürgerschaftliches Engagement, veröffentlicht in Materialien zur Bevölkerungswissenschaft, Ausgabe/Auflage Heft 126 2008, Wiesbaden, 2008
[Mobi19] Mobisaar - Mobilität für alle (Hrsg.) Der Mobisaar-Service, 2019
Weiterführende Literatur
[HBVA11] Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen e.V. Hinweise für barrierefreie Verkehrsanlagen (H BVA), 2011/06
[VDV12] Backes, M. (Mobia Projektkoordination, Sprecher des Forschungsprojektes) Mobia hält ältere Menschen mobil, veröffentlicht in Bus & Bahn - Personenverkehr - Güterverkehr - Verkehrspolitik, Ausgabe/Auflage 46. Jahrgang, 5/12, Alba Fachverlag, 2012/05
[Holz10c] Holz-Rau, C., Günthner, S., Schulten, M. ÖPNV: Planung für ältere Menschen: Ein Leitfaden für die Praxis, 2010
[RASt06] Baier, Reinhold, et al. Richtlinien für die Anlage von Stadtstraßen - RASt 06, Ausgabe/Auflage 2006, Köln, 2007, ISBN/ISSN 978-3-939715-21-4
[UBA20h] Umweltbundesamt (Hrsg.) Vorlaufforschung: Interdependente Genderaspekte der Bedürfnisfelder Mobilität, Konsum, Ernährung und Wohnen als Grundlage des urbanen Umweltschutzes, 2020/12
Glossar
Öffentlicher Personennahverkehr
Der öffentliche Personennahverkehr ist juristisch im Personenbeförderungsgesetz (PBefG) definiert. Laut Paragraf 8, Absatz 1 und 2 umfasst der ÖPNV "die allgemein zugängliche Beförderung von Personen mit Straßenbahnen, Obussen und Kraftfahrzeugen im Linienverkehr, die überwiegend dazu bestimmt sind, die Verkehrsnachfrage im Stadt-, Vorort- oder Regionalverkehr zu befriedigen". Taxen oder Mietwagen können dieses Angebot ersetzten, ergänzen oder verdichten.
Der Begriff ÖPNV bezieht sich in der Regel auf Strecken mit einer gesamten Reiseweite von weniger als 50 Kilometern oder einer gesamten Reisezeit von weniger als einer Stunde. Das in einer Stadt oder Region erforderliche Nahverkehrsangebot und dessen Eignung hinsichtlich Nachhaltigkeit und Klimaschutz wird in einem Nahverkehrsplan definiert und festgehalten.
BMDV
Bundesministerium für Digitales und Verkehr (bis 10/2005 BMVBW, bis 12/2013 BMVBS und bis 11/2021 BMVI)
BMBF Bundesministerium für Bildung und Forschung

Auszug aus dem Forschungs-Informations-System (FIS) des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur

https://www.forschungsinformationssystem.de/?398833

Gedruckt am Donnerstag, 28. März 2024 09:38:27