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Anforderungen von Nutzenden, Betroffenen und sonstigen Bedarfsträgerinnen und - trägern bei der Verkehrsberuhigung im Stadtverkehr

Erstellt am: 10.02.2012 | Stand des Wissens: 13.09.2023
Synthesebericht gehört zu:
Ansprechpartner
Institut für Mobilitäts- und Stadtplanung, Universität Duisburg-Essen, Prof. Dr.-Ing. Dirk Wittowsky
TU Dresden, Professur für Integrierte Verkehrsplanung und Straßenverkehrstechnik, Prof. Dr.-Ing. Regine Gerike

Bei der Planung von Maßnahmen zur Verkehrsberuhigung sowie von Straßenräumen mit hohem Aufenthalts- und Überquerungsbedarf sind die Belange aller privaten und öffentlichen Interessen zu berücksichtigen. Die Verpflichtung zur Anhörung und Einbeziehung von Trägern öffentlicher Belange (TöB) besteht dabei stets, sofern ihr Aufgabenbereich berührt wird.
Oft kommt es vor, dass die einzelnen Anforderungen an den Straßenraum gegenseitig widersprüchlich sind. Aufgrund der vielschichtigen Einzelinteressen, denen ein derartiger Straßenraum gerecht werden muss, ist eine allumfassende Definition von Anforderungen nahezu unmöglich. Vielmehr ist im Rahmen von Einzelfallentscheidungen innerhalb eines Abwägungsprozesses zu klären, welche Interessen in dem jeweiligen Gebiet dominieren. Entsprechend kommt es auch auf den jeweiligen Interessensstandpunkt der Akteurinnen und Akteure an, ob sie Nutzer oder Betroffene der Realisierung von Verkehrsberuhigungsmaßnahmen sind. Im Wesentlichen sollten die Belange folgender Akteurinnen und Akteure berücksichtigt werden:
  • Anwohnerinnen und Anwohner
  • Motorisierter Individualverkehr (MIV)
  • Öffentlicher Personennahverkehr (ÖPNV)
  • Radverkehr
  • Fußgängerverkehr
  • Mobilitätseingeschränkte Personen (ältere sowie seh- und gehbehinderte Menschen, Kinder)
  • Einzelhandel und sonst. Kommerzielle Anlieger
  • Schulen, Kindergärten, Altenheime und sonstige spezielle Nutzungen
  • Kunden, Geschäftsverkehr
  • Liefer- und Ladeverkehr
  • Notfalldienste
  • Kommunale Fahrzeuge
  • Ver- und Entsorgung, Leitungsträger
  • Grünordnung
  • Denkmalschutz ecetera.
Die Belange der einzelnen Beteiligten werden in der Regel durch einschlägige Regelwerke und Empfehlungen definiert. So beschreiben die Richtlinien für die Anlage von Stadtstraßen [RASt06] die allgemeinen Ansprüche an die Netzplanungen sowie die unterschiedlichen Nutzungsansprüche an Straßenräume. Darüber hinaus werden für den Straßenentwurf die Bemessungen von bestimmten Elementen definiert, sodass der MIV möglichst verträglich abgewickelt werden kann. Anforderungen mobilitätseingeschränkter Personengruppen werden in den Hinweisen für barrierefreie Verkehrsanlagen (HBVA) formuliert [HBVA11].
Ferner existieren weitere, speziell auf die Planung und Ausführung von baulichen verkehrsberuhigenden Maßnahmen im Straßenraum ausgelegte Empfehlungen [FGSV94], die die Belange des MIV, aber auch die der Kommunal- und Rettungsfahrzeuge, von Linienbussen und anderer berücksichtigen.
Untersuchungen in [AGFK16] haben ergeben, dass Auswirkungen von Verkehrsberuhigungsmaßnahmen auf die Bewertung der Erreichbarkeit der Einkaufsbereiche durch die Kunden nicht so stark ausgeprägt sind, wie dies seitens des Handels zum Teil befürchtet wird. So schätzten Akteurinnen und Akteure des Einzelhandels den Anteil an Kunden, die mit dem Auto anreisen, meist zu hoch ein. Die Annahme, dass Kundinnen und Kunden, die mit dem Auto anreisen, die größte Kaufkraft aufzeigen und somit für den Einzelhandel essenziell seien, stellte sich im Rahmen der Untersuchungen ebenfalls als inakkurat heraus. Fahrradfahrende und zu Fuß Gehende seien demnach ebenso kaufstark, frequentierten hingegen die Geschäfte häufiger, was zu höheren Einnahmen des Einzelhandels führt.
Dieselben Untersuchungen zeigten auch, dass die Aufenthaltsqualität des Einkaufsraumes, die Vielfalt des Einzelhandels, die Einkaufsatmosphäre und die Kaufkraft der Kundschaft deutlich ausschlaggebender für die Umsätze des Einzelhandels sind als die Erreichbarkeit der Bereiche mit dem MIV [BaSc98; AGFK16]. Diese Faktoren können mit dem richtigen Einsatz von Verkehrsberuhigungen positiv beeinflusst werden. Eine Verkehrsberuhigung kann außerdem die Erreichbarkeit mit dem Fahrrad steigern.
Im Zuge der Berücksichtigung von Belangen des Einzelhandels sind auch die besonderen Anforderungen des Lieferverkehrs zu beachten. Hierunter ist insbesondere die gesamte Ver- und Entsorgung der Einzelhandelsbetriebe zu verstehen. Für Fahrzeuge, die derartige Aufgaben wahrnehmen (hierbei handelt es sich meist um kleinere bis mittlere Lkw), ist vor allem die Herstellung und Sicherung von Lieferflächen und besonderen Zufahrten erforderlich [FGSV00a; FlHe03].
Ansprechpartner
Institut für Mobilitäts- und Stadtplanung, Universität Duisburg-Essen, Prof. Dr.-Ing. Dirk Wittowsky
Zugehörige Wissenslandkarte(n)
Verkehrsberuhigung im Stadtverkehr (Stand des Wissens: 13.09.2023)
https://www.forschungsinformationssystem.de/?358449
Literatur
[AGFK16] Arbeitsgemeinschaft fahrradfreundliche Kommunen in Bayern (Hrsg.) WirtschaftsRad - Mit Radverkehr dreht sich was im Handel, 2016/05
[BaSc98] Baier, Reinhold, Müller-Hagedorn, Lothar, Schuckel, Marcus, Schäfer, Karl Heinz, Ziehe, Nikola Innenstadtverkehr und Einzelhandel, veröffentlicht in Berichte der Bundesanstalt für Straßenwesen - Verkehrstechnik, Ausgabe/Auflage Heft V52, Wirtschaftsverlag NW Verlag für neue Wissenschaft GmbH, 1998, ISBN/ISSN 3-89701-164-6
[FGSV00a] Baier, R., et al. Hinweise zur verkehrlichen Erschließung von Innenstadtbereichen, 2000
[FGSV94] Schellberg et al. Merkblatt über bauliche Maßnahmen zur Verkehrsberuhigung, 1994
[FlHe03] Flämig, Heike, Hertel, Christof Integrierter Wirtschaftsverkehr in Ballungsräumen - Stand in Theorie und Praxis, Hamburg, 2003
[HBVA11] Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen e.V. Hinweise für barrierefreie Verkehrsanlagen (H BVA), 2011/06
[RASt06] Baier, Reinhold, et al. Richtlinien für die Anlage von Stadtstraßen - RASt 06, Ausgabe/Auflage 2006, Köln, 2007, ISBN/ISSN 978-3-939715-21-4
Weiterführende Literatur
[BeHä10a] Bechtler, Cornelius, Hänel, Anja Erfordert Shared Space einen Paradigmenwechsel in der Planungskultur?, veröffentlicht in Shared Space. Beispiele und Argumente für lebendige öffentliche Räume, Bielefeld, 2010, ISBN/ISSN 978-3-9803641-7-1
[FGSV14] Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen e.V. , Baier, Reinhold, Eilrich, Wolfgang, Gerlach, Jürgen, et al. Hinweise zu Straßenräumen mit besonderem Querungsbedarf - Anwendungsmöglichkeiten des "Shared Space"-Gedankens, veröffentlicht in Wissensdokumente (W 1), Ausgabe/Auflage FGSV 200/1, FGSV Verlag / Köln, 2014/06, ISBN/ISSN 978-3-86446-081-4
[SEL96] Selle, K. Planung und Kommunikation - Gestaltung von Planungsprozessen in Quartier, Stadt und Landschaft, Grundlagen, Methoden, Praxiserfahrungen, Wiesbaden, Berlin, 1996
[KEU05] Keuning Instituut, Senza Communicatie Shared Space - Raum für alle. Neue Perspektiven zur Raumentwicklung, Groningen (Niederlande), 2005
[UBA16j] Heinrichs, Eckhardt, Scharbarth, Frank, Sommer, Karsten Wirkungen von Tempo 30 an Hauptverkehrsstraßen, 2016, ISBN/ISSN 2363-832X
Glossar
Lkw Lastkraftwagen (Lkw) sind Kraftfahrzeuge, die laut Richtlinie 1997/27/EG überwiegend oder sogar ausschließlich für die Beförderung von Gütern und Waren bestimmt sind. Oftmals handelt es sich dabei um Fahrzeuge mit einer zulässigen Gesamtmasse zwischen 3,5 und 12 Tonnen. In Einzelfällen kann die zulässige Gesamtmasse diese Werte jedoch auch unter- beziehungsweise überschreiten, sofern das Kriterium der Güterbeförderung gegeben ist. Lastkraftwagen können auch einen Anhänger ziehen.
Motorisierter Individualverkehr Als motorisierter Individualverkehr (MIV) wird die Nutzung von Pkw und Krafträdern im Personenverkehr bezeichnet. Der MIV, als eine Art des Individualverkehrs (IV), eignet sich besonders für größere Distanzen und alle Arten von Quelle-Ziel-Beziehungen, da dieser zeitlich als auch räumlich eine hohe Verfügbarkeit aufweist. Verkehrsmittel des MIV werden von einer einzelnen Person oder einem beschränkten Personenkreis eingesetzt. Der Nutzer ist bezüglich der Bestimmung von Fahrweg, Ziel und Zeit frei (örtliche, zeitliche Ungebundenheit des MIV).
Öffentlicher Personennahverkehr
Der öffentliche Personennahverkehr ist juristisch im Personenbeförderungsgesetz (PBefG) definiert. Laut Paragraf 8, Absatz 1 und 2 umfasst der ÖPNV "die allgemein zugängliche Beförderung von Personen mit Straßenbahnen, Obussen und Kraftfahrzeugen im Linienverkehr, die überwiegend dazu bestimmt sind, die Verkehrsnachfrage im Stadt-, Vorort- oder Regionalverkehr zu befriedigen". Taxen oder Mietwagen können dieses Angebot ersetzten, ergänzen oder verdichten.
Der Begriff ÖPNV bezieht sich in der Regel auf Strecken mit einer gesamten Reiseweite von weniger als 50 Kilometern oder einer gesamten Reisezeit von weniger als einer Stunde. Das in einer Stadt oder Region erforderliche Nahverkehrsangebot und dessen Eignung hinsichtlich Nachhaltigkeit und Klimaschutz wird in einem Nahverkehrsplan definiert und festgehalten.

Auszug aus dem Forschungs-Informations-System (FIS) des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur

https://www.forschungsinformationssystem.de/?379159

Gedruckt am Donnerstag, 28. März 2024 11:52:36