Forschungsinformationssystem des BMVI

zurück Zur Startseite FIS

Verkehrsplanerische Rahmenbedingungen für "Shared Space"

Erstellt am: 16.01.2012 | Stand des Wissens: 13.06.2023
Synthesebericht gehört zu:
Ansprechpartner
Institut für Mobilitäts- und Stadtplanung, Universität Duisburg-Essen, Prof. Dr.-Ing. Dirk Wittowsky
TU Dresden, Professur für Integrierte Verkehrsplanung und Straßenverkehrstechnik, Prof. Dr.-Ing. Regine Gerike

Durch das Forschungsprojekt "Einsatzbereiche und Einsatzgrenzen von Straßenumgestaltungen nach dem "Shared-Space"-Gedanken" konnten im Jahr 2014 systematische Grundlagenkenntnisse zum Einsatz von Shared Space gesammelt werden [BSV14]. Dadurch gewonnene Erkenntnisse waren Grundlage für die Überarbeitung der "Hinweise zu Straßenräumen mit besonderem Querungsbedarf - Anwendungsmöglichkeiten des "Shared Space"-Gedankens" der Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen (FGSV) [FGSV14].
Diese geben erste Orientierungswerte für mögliche Einsatzgrenzen und entsprechende Komplexitätsstufen für Straßenräume mit hohem Aufenthalts- und Querungsbedarf vor, wobei auch drauf hingewiesen wird, dass die Orientierungswerte weitere empirische Untermauerung benötigen. Hierin sind als Richtwerte enthalten [FGSV14]:
  • die Verkehrsbelastung (einschließlich des Schwerverkehrsanteils) in der Spitzenstunde,
  • das Belastungsverhältnis des querenden Fußgängers- und Radverkehrs zum Längsverkehr und zur Knotenbelastung durch den Kraftfahrzeugverkehr und
  • die Anzahl stündlicher Überquerungen.
Der Tabelle 1 können diese Einsatzgrenzen entnommen werden.
verkehrsplanerische Rahmenbedingungen.pngTabelle 1: Einsatzgrenzen der Ausbautypen von Straßenräumen mit hohem Querungsbedarf [FGSV14]
Ebenso wird die Einrichtung eines Shared Space-Bereichs nicht empfohlen
  • bei hohem Parkdruck (und die damit verbundene Akzeptanzproblematik des gewünschten Parkverbotes) [DVR08] und
  • bei starker Nutzung des öffentlichen Raums seitens mobilitätseingeschränkter Personen (beispielsweise nahe Schulen, Kindergärten und ähnlichen Einrichtungen)
Der Gesamtentwurf eines Straßenraumes mit hohem Aufenthalts- und Querungsbedarf soll, wie auch bei der Shared Space-Philosophie, selbsterklärend und auch ohne Schilder "lesbar" sein. Aus gestalterischer Sicht ist hierfür der bevorzugte Einsatz unverwechselbarer und ortstypischer Elemente sinnvoll (unter anderem Farb- und Materialwechsel, Einbindung ortsprägender Elemente). Dabei steht das typische Erscheinungsbild eines Verkehrsraumes mit verkehrstechnischen Eingriffen sowie zumeist weiterer baulicher Maßnahmen (zum Beispiel Absperrgitter) dem Shared Space-Gedanken entgegen [KEU05].
Aus verkehrsplanerischer Sicht sind aufgrund der Analyse und Bewertung realisierter Projekte die folgenden baulichen und/oder gestalterischen Maßnahmen empfehlenswert [GER10a]:
  • weitestgehend höhengleiche Ausstattung: einzelne Elemente oder Einbauten zur räumlichen Gliederung,
  • Ersatzelemente zur Orientierung für blinde und sehbehinderte Personen,
  • Rechts-vor-Links-geregelte Knotenpunkte, Mini-Kreisverkehrsplätze oder kleinere Kreisverkehrsplätze zur Gewährleistung der Leistungsfähigkeit der Straßenverkehrsanlage,
  • Verlagerung des ruhenden Verkehrs, um uneingeschränkte Sichtbeziehungen herzustellen (Einrichtung ausreichender Stellplatzangebote im nahen Umfeld) gegebenenfalls mittels Poller, Rahmen oder Gitter in stark frequentierten Bereichen [ADAC17a; ADFC08; GER08].
Bei der Verlagerung des ruhenden Verkehrs in das naheliegende Umfeld sollte ein vertretbarer Entfernungsbereich gewährleistet werden. So können Richtwerte den Empfehlungen für Anlagen des ruhenden Verkehrs (EAR05) entnommen werden. Ebenso schlägt der Allgemeine Deutsche Automobil-Club e. V. (ADAC) eine maximale Entfernung von 400 Meter vor. Hierbei muss neben einem ausreichenden Stellplatzangebot auch auf nutzerspezifische Zweckmäßigkeit der vorhandenen Flächen für den ruhenden Verkehr geachtet werden (unter anderem Anwohnerparken, Kundenparken) [EAR05; ADAC09b].
Weiterhin setzt die gemeinsame Nutzung des öffentlichen Raumes nach der Shared Space-Idee verkehrsplanerisch die Umsetzung des Mischungsprinzips voraus. Unter dem Mischungsprinzip wird nach den Richtlinien für die Anlage von Stadtstraßen (RASt 06) der Versuch verstanden, "[...] durch intensive Entwurfs- und Gestaltungsmaßnahmen mehrere Nutzungen möglichst weitgehend miteinander verträglich zu machen" [RASt06]. Dies kann unter höhengleicher Ausführung des Straßenraumes oder durch dichte Folge geschwindigkeitsdämpfender Maßnahmen erfolgen [RASt06].
Weiterhin enthalten die RASt 06 diesbezüglich keine einschränkenden Vorgaben. Nach ihnen müssen öffentliche Straßenverkehrsanlagen, welche entsprechend dem Mischungsprinzip oder unter Zuhilfenahme weicher Separationsmaßnahmen ausgeführt werden, die folgenden Grenzwerte unterschreiten [RASt06]:
  • Obergrenze der Verkehrsstärke: 400 Kraftfahrzeuge pro Stunde,
  • Höchstgeschwindigkeit: 30 Kilometer pro Stunde.
Diese Anforderungen der RASt 06 beschreiben keine direkten Einsatzgrenzen. Die Geschwindigkeitsbegrenzung fördert die Vorstellung eines sozialen Verkehrsverhaltens. Die Obergrenze der verkehrlichen Belastung gilt für die "typischen Entwurfssituationen" nach den RASt 06 [RASt06].
Entsprechend den Forderungen der unterschiedlichen Interessenvertretungen können so auch Flachborde und/oder Elemente, Farb- und Materialwechsel zum Einsatz kommen, die durch optische oder bauliche Separation gewisse Schon- und Schutzräume für die nicht-motorisierten und schwachen Verkehrsteilnehmenden signalisieren [ADFC08; FGSV14].
Ansprechpartner
Institut für Mobilitäts- und Stadtplanung, Universität Duisburg-Essen, Prof. Dr.-Ing. Dirk Wittowsky
Zugehörige Wissenslandkarte(n)
Straßenräume mit hohem Aufenthalts- und Querungsbedarf (Stand des Wissens: 13.06.2023)
https://www.forschungsinformationssystem.de/?375535
Literatur
[ADAC09b] Allgemeiner Deutscher Automobil-Club e.V., Shared Space - Mehr Sicherheit durch weniger Regeln im Verkehr?, München, 2009
[ADAC17a] Allgemeiner Deutscher Automobil-Club e.V. ADAC - Zur Sache. Shared Space. Mehr Sicherheit durch Mischung der Verkehrsarten auf einer gemeinsamen Verkehrsfläche und Abbau von Schildern?, 2017/06
[ADFC08] Koerdt, A., et al. ADFC-Position: Neun Fragen zum Thema Shared Space, veröffentlicht in Radwelt , Ausgabe/Auflage 4/2008, Bremen, 2008
[BSV14] BSV Büro für Stadt- und Verkehrsplanung Dr.-Ing. Reinhold Baier GmbH, Baier, R.,, Engelen, K.,, Klemps-Kohnen, A.,, Reinartz, A. Einsatzbereich und Einsatzgrenzen von Straßenumgestaltungen nach dem "Shared Space"-Gedanken, 2014/08
[DVR08] Deutscher Verkehrssicherheitsrat e.V. Shared Space. Beschluss des DVR-Gesamtverbands vom 21.10.2008 auf Basis der Empfehlungen des Ausschusses für Verkehrstechnik, Bonn, 2008
[EAR05] Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen e.V. Empfehlungen für Anlagen des ruhenden Verkehrs EAR 05, 2005
[FGSV14] Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen e.V. , Baier, Reinhold, Eilrich, Wolfgang, Gerlach, Jürgen, et al. Hinweise zu Straßenräumen mit besonderem Querungsbedarf - Anwendungsmöglichkeiten des "Shared Space"-Gedankens, veröffentlicht in Wissensdokumente (W 1), Ausgabe/Auflage FGSV 200/1, FGSV Verlag / Köln, 2014/06, ISBN/ISSN 978-3-86446-081-4
[GER08] Gerlach, J.,, et al. Sinn und Unsinn von Shared Space - Zur Versachlichung einer populären Gestaltungsphilosophie., veröffentlicht in Straßenverkehrstechnik, Ausgabe/Auflage Heft 02, Kirschbaum Verlag/Bonn, 2008/03
[GER10a] Gerlach, J. Shared Space aus verkehrsplanerischer Sicht. Definitionen, Erfahrungen und Empfehlungen vor dem Hintergrund der Straßenverkehrsordnung und dem planerischen Regelwerk in Deutschland, veröffentlicht in Shared Space. Beispiele und Argumente für lebendige öffentliche Räume., Bielefeld, 2010, ISBN/ISSN 978-3-9803641-7-1
[KEU05] Keuning Instituut, Senza Communicatie Shared Space - Raum für alle. Neue Perspektiven zur Raumentwicklung, Groningen (Niederlande), 2005
[RASt06] Baier, Reinhold, et al. Richtlinien für die Anlage von Stadtstraßen - RASt 06, Ausgabe/Auflage 2006, Köln, 2007, ISBN/ISSN 978-3-939715-21-4
Glossar
ADAC = Allgemeine Deutsche Automobil Club e. V.. Der ADAC nimmt für sich in Anspruch, die Interessen deutscher Auto-, Motorrad- und Bootfahrer zu vertreten. Er bietet - direkt oder über Tochterfirmen - Dienstleistungen an und produziert Stadtpläne sowie Straßenkarten. Außerdem betreibt er mehrere Fahrsicherheitszentren. Die ursprüngliche und bekannteste Dienstleistung des Clubs ist die Pannenhilfe.
Verkehrsstärke
Die Verkehrsstärke ist eine Kennzahl für die Stärke eines Verkehrsstroms an einem Querschnitt, gemessen in der Anzahl der Verkehrseinheiten, die diese Stelle pro Zeiteinheit passieren. Man spricht in diesem Zusammenhang von Streckenbelastung, wenn sich die Quantifizierung des Verkehrsstroms alternativ auf einen betrachteten Streckenabschnitt und nicht auf einen Querschnitt bezieht.
Verkehrsstärke = Verkehrseinheiten am Querschnitt / Bezugsperiode
Gebräuchliche Einheiten für die Verkehrsstärke sind z. B. Fahrzeuge [Fzg] pro Tag [24h] oder Stunde [h] (z. B. durchschnittliche tägliche Verkehrsstärke, kurz DTV [Fzg/24h])

Auszug aus dem Forschungs-Informations-System (FIS) des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur

https://www.forschungsinformationssystem.de/?375500

Gedruckt am Freitag, 29. März 2024 11:57:36