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Megaprojektplanung und -bewertung in Großbritannien

Erstellt am: 25.05.2011 | Stand des Wissens: 21.02.2023
Synthesebericht gehört zu:
Ansprechpartner
Karlsruher Institut für Technologie (KIT), Institut für Volkswirtschaftslehre (ECON), Prof. Dr. Kay Mitusch

Um die Fehleinschätzungen infolge einer zu optimistischen Einstellung von Projektträgern und die damit verbundenen Kostenunterschätzungen zu vermeiden, wurden in Großbritannien verschiedene Maßnahmen bei der Planung von Infrastrukturprojekten getroffen.

Zum einen sind die Projektträger im Rahmen des Maßnahmenpakets Quantified Risk Assessment (QRA) dazu verpflichtet, auf Grundlage einer umfangreichen Risikoanalyse eine fundierte statistische Kostenverteilung und hieraus den zu erwartenden Risikowert für die Projektrealisierung herzuleiten. [DFT2017]
Bei der QRA handelt es sich dabei um einen vierstufigen Prozess:
  1. Risikoidentifikation: Die Projektträger erstellen zunächst ein umfangreiches Risikoregister. Darin enthalten sind unter anderem Konstruktionsrisiken und operationale Risiken sowie Angaben darüber, wer das Risiko jeweils trägt. [DFT2017, S. 6]
  2. Bewertung der Auswirkungen von Risiken: Basierend auf Erfahrungen aus ähnlichen Projekten oder durch Sensitivitätsanalysen werden die möglichen finanziellen Auswirkungen der in Schritt 1 gesammelten Risiken untersucht. [DFT2017, S. 7f]
  3. Schätzung der Risikoeintrittswahrscheinlichkeit: Die Wahrscheinlichkeit der verschiedenen möglichen Ergebnisse wird quantifiziert. Hierbei handelt es sich häufig um einen ungenauen Prozess, bei dem bestimmte Annahmen getroffen werden müssen. [DFT2017, S. 8]
  4. Ableitung einer Wahrscheinlichkeitsverteilung für die Projektkosten: Aus den Erkenntnissen der vorherigen Schritte werden die Wahrscheinlichkeiten abgeleitet, dass ein Projekt bestimmte Kostenwerte nicht überschreitet. Hieraus ergibt sich eine Wahrscheinlichkeitsverteilung für die Projektkosten. Deren Mittelwert dient als erste fundierte Schätzung für die Gesamtkosten des Megaprojekts. [DFT2017, S. 8]
Zum anderen wurde im Jahr 2004 die Methode der Referenzklassenprognose (reference class forecasting) eingeführt. Dabei werden bereits durchgeführte Projekte hinsichtlich ihrer Kostenüberschreitungen analysiert und in Referenzklassen wie Straßen-, Bau- und Schienenprojekte eingeteilt. Für jede Referenzklasse wird basierend auf empirischen Daten eine Verteilungsfunktion erstellt, die Informationen über eine Kostenüberschätzung liefert. Auf Basis dieser Verteilungsfunktion werden Risikoaufschläge berechnet, um die häufig zu optimistischen Schätzungen (Optimism bias) auszugleichen. [DFT2017, S. 12]
Die Risikoaufschläge werden in vier Schritten ermittelt:
  1. Bestimmung der Projektart: Zunächst wird das Projekt in eine Oberklasse eingeteilt (zum Beispiel Straße/Schiene, Brücken & Tunnel, Gebäude, IT-Projekte).
  2. Bestimmung der Projektentwicklungsstufe: Die Höhe der anzunehmenden Risikoaufschläge ist neben der Projektklasse auch von der aktuellen Projektentwicklungsstufe abhängig. Das UK Department for Transport unterteilt das Projekt abhängig von der Projektkategorie hierfür in die in Tabelle 1 aufgeführten drei Phasen. [DFT2017, S. 14] Bei Projekten des öffentlichen Personennahverkehrs bilden hier verschiedene Detailierungsgrade des Business Case die Grundlage für die Unterteilung. Bei Straßen- und Schieneninfrastrukturprojekten orientiert sich das UK Department for Transport an den britischen Projektplanungsstandards PCF (Straßen) und GRIP (Schienen).
    uk_tag_planungsphasen.pngTabelle 1: Projektentwicklungsstufen in den verschiedenen Projektklassen [DFT2017, S. 14] 
  3. Ermittlung und Anwendung der Risikoaufschläge: In Abhängigkeit von der aktuellen Planungsphase und der Projektklasse empfiehlt das UK Department for Transport die in Tabelle 2 aufgeführten Risikoaufschläge für die Kostenschätzung. Da besonders zu Beginn der Projektplanung noch keine ausreichenden Informationen zu eventuellen Risikofaktoren verfügbar sind, werden für die früheren Planungsphasen deutlich höhere Risikoaufschläge empfohlen.
    uk_tag_risikoaufschlaege.PNG
    Tabelle 2: Empfohlene Risikoaufschläge für die Planung von Infrastrukturprojekten [DFT2017, S. 15]
  4. Durchführung einer Sensitivitätsanalyse: Im Rahmen einer Sensitivitätsanalyse wird untersucht, inwieweit höhere Risikoaufschläge das Projektergebnis beeinflussen würden. Darüber hinaus empfiehlt das UK Department of Transport in diesem Schritt auch dringend die Untersuchung von Auswirkungen veränderter Betriebskosten. [DFT2017, S. 16]
 
Ansprechpartner
Karlsruher Institut für Technologie (KIT), Institut für Volkswirtschaftslehre (ECON), Prof. Dr. Kay Mitusch
Zugehörige Wissenslandkarte(n)
Planung und Bewertung von Megaprojekten im Verkehrsbereich (Stand des Wissens: 17.04.2023)
https://www.forschungsinformationssystem.de/?352432
Literatur
[DFT2017] UK Department for Transport Transport Analysis Guidance Unit A1.2 - Scheme Costs, 2017/06
Glossar
Governance for Railway Investment Projects
Die Governance for Railway Investment Projects (GRIP) ist ein vom britischen Schienennetzbetreiber Network Rail entwickeltes Verfahren zur Bewertung und Durchführung von Infrastrukturprojekten im Schienenfernverkehr.
Um die mit komplexen Infrastrukturprojekten häufig verbundenen Risiken zu minimieren, unterteilt der GRIP-Prozess das Projekt in acht streng voneinander abgegrenzte, aufeinanderfolgende Phasen:
  1. Output Definition
  2. Feasibility
  3. Option Selection
  4. Single Option Development
  5. Detailed Design
  6. Construction Test & Commission
  7. Scheme Handback
  8. Project Closeout
Dabei dienen die Ergebnisse aus der vorgelagerten Phase jeweils als Grundlage für die Bearbeitung der Folgephase. GRIP hat zum Ziel, Schieneninfrastrukturprojekte effizient und nutzenmaximierend in das bestehende Schienennetz zu integrieren.
Project Control Framework
Das Project Control Framework (PCF) ist das vom englischen Straßenbetreiber Highways England angewandte Standardverfahren zur Planung und Realisierung von öffentlichen Infrastrukturprojekten im Straßenverkehr.
Das PCF definiert einen Projektlebenszyklus mit klarem Anfangs- und Endpunkt, und unterteilt das Projekt in sieben aufeinanderfolgende Phasen, die um zentrale Projektmeilensteine strukturiert sind:
  1. Option identification
  2. Option selection
  3. Preliminary design
  4. Statutory procedures and powers
  5. Construction preparation
  6. Construction, commissioning and handover
  7. Closeout
Das PCF hat zum Ziel, Transparenz und Konsistenz zwischen den verschiedenen Entscheidungsträgern, Behörden und Projekten zu schaffen, sowie die Sinnhaftigkeit und Qualität eines Infrastrukturvorhabens festzustellen und zu dokumentieren.
Öffentlicher Personennahverkehr
Der öffentliche Personennahverkehr ist juristisch im Personenbeförderungsgesetz (PBefG) definiert. Laut Paragraf 8, Absatz 1 und 2 umfasst der ÖPNV "die allgemein zugängliche Beförderung von Personen mit Straßenbahnen, Obussen und Kraftfahrzeugen im Linienverkehr, die überwiegend dazu bestimmt sind, die Verkehrsnachfrage im Stadt-, Vorort- oder Regionalverkehr zu befriedigen". Taxen oder Mietwagen können dieses Angebot ersetzten, ergänzen oder verdichten.
Der Begriff ÖPNV bezieht sich in der Regel auf Strecken mit einer gesamten Reiseweite von weniger als 50 Kilometern oder einer gesamten Reisezeit von weniger als einer Stunde. Das in einer Stadt oder Region erforderliche Nahverkehrsangebot und dessen Eignung hinsichtlich Nachhaltigkeit und Klimaschutz wird in einem Nahverkehrsplan definiert und festgehalten.
Betriebskosten
Betriebskosten sind laufende Aufwendungen, die im Zusammenhang mit der Erbringung von Verkehrsleistungen entstehen. Hierzu zählen zum Beispiel Aufwendungen für Energie, Personal, oder Infrastrukturnutzung.
Optimism bias
Als "optimism bias" wird die tendenzielle Neigung von Gutachtern und Projektträgern bezeichnet, wesentliche Größen ihrer Vorhaben zu optimistisch einzuschätzen und etwaige Risikofaktoren zu vernachlässigen.
Als Folge des "optimism bias" werden Projektkosten und -dauern häufig unterschätzt bzw. der zu erwartende Projektnutzen überschätzt. Verschiedene Verfahren, wie z.B. Sensitivitätsanalysen oder Risikoaufschläge, können dazu beitragen, eventuelle Fehleinschätzungen frühzeitig zu identifizieren.

Auszug aus dem Forschungs-Informations-System (FIS) des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur

https://www.forschungsinformationssystem.de/?352029

Gedruckt am Samstag, 20. April 2024 04:48:04