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Historische Entstehungsgeschichte des deutschen Schienennetzes

Erstellt am: 06.05.2011 | Stand des Wissens: 24.09.2021
Ansprechpartner
Institut für Mobilitäts- und Stadtplanung, Universität Duisburg-Essen, Prof. Dr.-Ing. Dirk Wittowsky
TU Dresden, Professur für Integrierte Verkehrsplanung und Straßenverkehrstechnik, Prof. Dr.-Ing. Regine Gerike

Die Anfänge der deutschen Eisenbahngeschichte sind im 19. Jahrhundert verankert. Vorreiter in der Entwicklung des Schienenverkehrs war England, wo bereits im 18. Jahrhundert die Idee einer Spurführung zum Einsatz kam. Die Voraussetzungen für ein spurgebundenes Verkehrssystem waren jedoch hierzulande eher nachteilig, da ländliche Siedlungsformen vorherrschten und die Mitgliedsstaaten im Deutschen Bund nur lose existierten. Zu den Vordenkern und Fürsprechern der deutschen Eisenbahn zählen Friedrich List, Carl Grote und Gustav Hakort durch List und Grote entstanden bereits 1833 und 1834 erste Entwürfe für ein zukünftiges Bahnnetz (Abbildung 1 und 2). Die im Dezember 1835 eröffnete erste Eisenbahnstrecke auf deutschem Boden führte mit einer Länge von sechs Kilometern von Nürnberg nach Fürth. Kunstbauten, wie Tunnel- oder Brückenkonstruktionen, waren hierbei allerdings noch nicht erforderlich. Zu dieser Zeit begannen auch die Bautätigkeiten für eine erste Fernstrecke von Leipzig nach Dresden. Drei Jahre später fertiggestellt, umfasste diese bereits mehrere Brücken und einen Tunnel. [Allm10, S. 59; Weig10, S. 10]
 Netzskizze von Friedrich List aus dem Jahr 1833Abbildung 1: Netzskizze von Friedrich List aus dem Jahr 1833 [Weig10, S. 9]


Netzskizze von Carl Grote aus dem Jahr 1834Abbildung 2: Netzskizze von Carl Grote aus dem Jahr 1834 [Weig10, S. 9]
Die weitere Infrastrukturentwicklung gestaltete sich allerdings zunächst ausgesprochen schleppend. 1842 existierten lediglich einzelne Strecken ohne Netzbildung, wobei insbesondere im sächsischen Raum der Ausbaufortschritt besonders groß war. Die nachfolgende erste verkehrliche Revolution brachte hingegen allein im Jahr 1846 ein Streckenlängenwachstum von 1153 Kilometern mit sich. Um 1850 verband darüber hinaus bereits eine Eisenbahnverbindung die Königreiche Sachsen und Bayern. [Allm10, S. 59] 90 Prozent der Verbindungen, die heutzutage als Hauptstrecken dienen, entstanden zwischen 1840 und 1880. Die stark wachsende und in der genannten Epoche meist privat finanzierte Netzentwicklung geht aus den Abbildungen 3 und 4 hervor. [Weig10, S. 11]
Eisenbahnnetz Ende 1842 Abbildung 3: Ausbauzustand des Eisenbahnnetzes Ende 1842 [Weig10, S. 11]


Eisenbahnnetz Ende 1880 Abbildung 4: Ausbauzustand des Eisenbahnnetzes Ende 1880 [Weig10, S. 11]

Ab 1880 setzte ein Umdenken hinsichtlich der Flächenerschließung ein. Ziel war es, bedeutende Städte, die nicht an Hauptbahnen angebunden waren, durch den Bau von Nebenstrecken mit geringeren Standards ebenfalls in das Eisenbahnsystem zu integrieren. Zwischen 1880 und 1913 wuchs allein dieses Nebenbahnnetz auf 23.000 Kilometer [Allm10, S. 59]. Zudem wurde ein mehrgleisiger Ausbau hoch ausgelasteter Strecken notwendig, um die mittlerweile entstandene Verkehrsnachfrage befriedigen zu können. 1913 waren bereits 23.300 Kilometer Strecke mehrgleisig ausgeführt. Die zum Großteil vorhandenen, vor den damaligen Stadtmauern endenden Kopfbahnhöfe wurden ebenfalls erweitert. Durch die Modernisierung von Trassierungsstandards, die engere Bogenradien sowie größere Gradienten (stärkere Gleislängsneigungen von bis zu 25 Promille) erlaubten, konnte die Anzahl kostenintensiver Brücken- und Tunnelbauten reduziert werden. Streckenblöcke, Stellwerke sowie schwerer Oberbau steigerten darüber hinaus die verkehrliche Systemleistungsfähigkeit [Weig10, S. 12]. Das Schienennetz des deutschen Kaiserreichs erreichte im Jahr 1900 schließlich eine Gesamtstreckenlänge von 51.000 Kilometer. [MONO07, S. 15]

Während des Ersten Weltkriegs erwies es sich für die deutschen Streitkräfte als ernstzunehmendes logistisches Hindernis, dass mehrere Länderbahnen das Land durchquerten. Die regionalen Eisenbahnverwaltungen wurden deshalb im Kriegsverlauf zunehmend von militärischen Stellen kontrolliert. Nach Kriegsende wurde die "Verreichlichung", also die Verstaatlichung der Länderbahnen von vielen politischen Vertretern, aber auch von der Industrie gefordert, um die verkehrliche und wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der neuen Republik voranzutreiben. Am 1. April 1920 erfolgte deshalb im Rahmen eines Staatsvertrags zur Gründung der "Deutschen Reichsbahnen" der Zusammenschluss der ehemals partikular organisierten Länderbahnen [Pohl99, S. 71 ff.]. Tabelle 1 listet die Streckennetzlänge der ursprünglich eigenständigen Länderbahnen auf.
reckenlängen der deutschen Länderbahnen vor der Fusion 1920 Tabelle 1: Streckenlängen der deutschen Länderbahnen vor ihrer Fusion im Jahre 1920 [Weig10a, S. 16]

Die Gebietsabtretungen nach dem Ersten Weltkrieg hatten eine Reduktion des Gesamtumfangs der deutschen Schieneninfrastruktur, nicht aber eine wesentliche Ausdünnung des Netzes zur Folge (von 64.000 Kilometer 1914 auf 53.660 Kilometer 1920) [Kolb99, S. 109 ff.]. Der Infrastrukturbestand zeigte sich jedoch stark sanierungsbedürftig [Allm10, S. 58]. Im Zuge der Reparationsverhandlungen mit den Siegermächten wurde der sogenannte "Dawes-Plan" entwickelt. Dieser beinhaltete die offizielle Privatisierung der Deutschen Reichsbahnen. Die so entstandene "Deutsche Reichsbahn-Gesellschaft" gehörte zwar dem Deutschen Reich, wurde jedoch mit erheblichen Schulden aus den Reparationszahlungen belastet. Das rechtliche Konstrukt ermöglichte zudem die Einflussnahme der Gläubiger auf die Unternehmenspolitik [Kolb99, S. 109 ff.].

Auch der Zweite Weltkrieg hinterließ zerstörte Bahnhöfe und Brücken und nur wenige intakte Gleisanlagen. Zudem erzwang der sich anschließende Kalte Krieg 1949 eine geografische Aufteilung der Betriebsführung in die von der Bundesrepublik gegründete Deutsche Bundesbahn (DB) im Westen und die als Deutsche Reichsbahn (DR) bezeichnete Staatsbahn der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) im Osten. Ab den 1950er Jahren zeichnete sich in der Bundesrepublik ein starkes Wachstum des motorisierten Individualverkehrs ab, infolgedessen eine Vielzahl an Strecken stillgelegt wurden. In der DDR dagegen bereitete der Wiederaufbau der völlig zerstörten Infrastruktur aufgrund der hohen Reparationsleistungen an die Sowjetunion erhebliche Schwierigkeiten. [Allm10, S. 61]

Mit der Wiedervereinigung beider deutscher Staaten im Jahr 1990 sowie der 1994 in Kraft getretenen Bahnreform ergab sich die Grundlage für einen Zusammenschluss von DB und DR zum aktienrechtlich geführten Konzern Deutsche Bahn AG (DB AG). Besonders auf dem ehemaligen Staatsgebiet der DDR bestand ein umfangreicher Modernisierungsrückstand. Darüber hinaus wurden aufgrund schwindender verkehrlicher Bedeutung diverse Nebenstrecken stillgelegt, sodass keine nennenswerte Netzausdehnung im Rahmen der Wiedervereinigung stattfand [EBA13]. Ein Teil der seit Mitte der 1990er Jahre durch die DB Netz AG aufgegebenen Strecken konnte jedoch durch nichtbundeseigene Eisenbahnen (NE-Bahnen) übernommen und weiterbetrieben werden, sodass sich die Länge des Gesamtnetzes in weit geringerem Maße reduzierte.

Entwicklung der Gesamtnetzlänge

Abbildung 5 veranschaulicht die Gesamtnetzlängenentwicklung im historischen Verlauf, einschließlich ihrer weltkriegsbedingten Einbrüche. Dabei sind jedoch die territorialen Veränderungen Deutschlands der vergangenen beiden Jahrhunderte zu berücksichtigen: Aus einer Erhöhung der Streckenlänge kann nicht zwangsläufig auf eine zunehmende Netzdichte geschlossen werden kann und auch ein dichteres Streckennetz bedeutet nicht unbedingt, dass sich auch dessen Länge vergrößert.
350049_Streckennetz_Eisenbahn_2014.PNGAbbildung 5: Entwicklung der Streckennetzlänge in Deutschland (eigene Darstellung nach [Allm10, S. 58; BMVBW04r, S. 7; DIW11, S. 52 f., Cia14a]
In der Abbildung 6 wird die Entwicklung der Streckennetzlänge der Deutschen Bahn dargestellt. Dabei ist eine Abnahme der Streckennetzlänge zu erkennen, bedingt durch Streckenstilllegungen. Heutzutage ist das Schienennetz der Deutschen Bahn das Längste Europas [Dest2021].
350049_Streckennetz_DB_2018.PNGAbbildung 6: Entwicklung der Streckennetzlänge der Deutschen Bahn AG in Deutschland (eigene Darstellung nach [BMVI17q, S.321; DBAG19e, S. 2]
Ansprechpartner
Institut für Mobilitäts- und Stadtplanung, Universität Duisburg-Essen, Prof. Dr.-Ing. Dirk Wittowsky
Literatur
[Allm10] Allmann, Gerd-Dieter, Dipl.-Ing. Eisenbahnen in Deutschland, veröffentlicht in EI-Eisenbahningenieur, Ausgabe/Auflage 12/2010, DVV Media Group GmbH / Hamburg , 2010/12, ISBN/ISSN 0013-2810
[BMVBW04r] Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin Verkehr in Zahlen 2004/2005, Deutscher Verkehrs-Verlag GmbH Hamburg, 2004, ISBN/ISSN 3-87154-315-2 (Buch und CD-ROM)
[BMVI17q] Bundesministerium für Digitales und Verkehr (Hrsg.) Verkehr in Zahlen 2017/2018, Ausgabe/Auflage 46. Jahrgang, 2017, ISBN/ISSN ISBN 978-3-87154-617-4
[Cia14a] Central Intelligence Agency (Hrsg.) The World Factbook, 2014
[DBAG19e] Deutsche Bahn AG Konzern, Deutsche Bahn AG (Hrsg.) Integrierter Bericht 2018 - Auf dem Weg zu einer besseren Bahn , 2019/03/28
[Dest2021] Statistisches Bundesamt (Hrsg.) Basistabelle Schienennetz, Gesamtlänge, 2021/03/05
[DIW11] Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin Verkehr in Zahlen 2011/2012, Ausgabe/Auflage 40. Jahrgang, DVV Media Group, 2011, ISBN/ISSN 978-3-87514-456-9 (Buch und CD-Rom)
[EBA13] o. A. Liste der stillgelegten (DB-) Strecken (seit 01.01.1994), 2013/07/08
[Kolb99] Kolb, Eberhard Die Reichsbahn vom Dawes-Plan bis zum Ender der Weimarer Republik, veröffentlicht in Die Eisenbahn in Deutschland: Von den Anfängen bis zu Gegenwart, C. H. Beck, München, 1999
[MONO07] Monopolkommission Wettbewerbs- und Regulierungsversuche im Eisenbahnverkehr - Sondergutachten 48 der Monopolkommission, Nomos-Verlag/Baden-Baden, 2007/04
[Pohl99] Pohl, Manfred Von den Staatsbahnen zur Reichsbahn 1918 - 1924, veröffentlicht in Die Eisenbahn in Deutschland: Von den Anfängen bis zu Gegenwart, C. H. Beck, München, 1999
[Weig10] Weigelt, Horst, Dr.-Ing. E.h., Dipl.-Ing. Von den Anfängen der Eisenbahn bis zur Glanzzeit deutscher Länderbahnen - ein Überblick, veröffentlicht in Eisenbahntechnische Rundschau, Ausgabe/Auflage 12/2010, DVV Media Group GmbH / Hamburg , 2010/12, ISBN/ISSN 0013-2845
[Weig10a] Weigelt, Horst, Dr.-Ing., Dipl.-Ing. Leistungsprofile von der Deutschen Reichsbahn bis zur Deutschen Bundesbahn, veröffentlicht in Eisenbahntechnische Rundschau, Ausgabe/Auflage 12/2010, DVV Media Group GmbH / Hamburg , 2010/12, ISBN/ISSN 0013-2845
Glossar
Motorisierter Individualverkehr Als motorisierter Individualverkehr (MIV) wird die Nutzung von Pkw und Krafträdern im Personenverkehr bezeichnet. Der MIV, als eine Art des Individualverkehrs (IV), eignet sich besonders für größere Distanzen und alle Arten von Quelle-Ziel-Beziehungen, da dieser zeitlich als auch räumlich eine hohe Verfügbarkeit aufweist. Verkehrsmittel des MIV werden von einer einzelnen Person oder einem beschränkten Personenkreis eingesetzt. Der Nutzer ist bezüglich der Bestimmung von Fahrweg, Ziel und Zeit frei (örtliche, zeitliche Ungebundenheit des MIV).
nichtbundeseigene Eisenbahnen Als nichtbundeseigene Eisenbahnen (NE-Bahnen ) werden alle Eisenbahnunternehmen bezeichnet, die nicht mehrheitlich dem Besitz der Bundesrepublik Deutschland zuzuordnen sind.

Auszug aus dem Forschungs-Informations-System (FIS) des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur

https://www.forschungsinformationssystem.de/?350049

Gedruckt am Freitag, 1. Dezember 2023 05:14:17