Forschungsinformationssystem des BMVI

zurück Zur Startseite FIS

Differierende Stromsysteme im Eisenbahnverkehr Europas

Erstellt am: 05.07.2010 | Stand des Wissens: 23.09.2020
Synthesebericht gehört zu:
Ansprechpartner
Technische Universität Hamburg, Institut für Logistik und Unternehmensführung, Prof. Dr. Dr. h.c. W. Kersten

Mit Beginn der Elektrifizierung von Eisenbahnstrecken Anfang des 20. Jahrhunderts stellte sich auch die Frage nach dem optimalen Stromsystem. Da die Stromsysteme nicht einheitlich geplant wurden, sondern von den verschiedenen Eisenbahngesellschaften kam es zu verschiedenen Insellösungen. Beim späteren Ausweiten und Zusammenwachsen der Netze stellten sich die unterschiedlichen Systemcharakteristika als wesentliches Problem heraus. In Deutschland wurde dieses Problem bereits früh erkannt, sodass sich die deutschen Ländereisenbahngesellschaften 1912 gemeinsam auf ein Einphasenwechselstromsystem einigten. Das darauf aufbauende und seit 1995 in der Bundesrepublik Deutschland übliche System wird mit 15 kV / 16,7 Hz Wechselstrom betrieben. Die österreichischen, schweizerischen, schwedischen und norwegischen Staatsbahnen schlossen sich später dieser Vereinbarung an [DVF97, S. 38ff.]. Trotzdem gibt es heute in Europa fünf verschiedene Stromsysteme, welche für den grenzüberschreitenden Verkehr von Bedeutung sind. Einen Überblick über die unterschiedlichen Systeme und ihre Verbreitungsgebiete zeigt die folgende Tabelle 1.
Tabelle 1 : Unterschiedliche Stromsysteme der europäischen Bahnen (in Anlehnung an [PaFe09])
Unterschiedliche Stromsysteme der europaeischen Bahnen neue Tabelle.png
Im Rahmen der Technischen Spezifikationen für die Interoperabilität (TSI) "Energie" wurde seitens der EU-Kommission in der Verordnung (EUV 1302/2014) vier zulässige Energieversorgungssysteme definiert. Wobei das 25 kV/50 Hz-Wechselstromnetz als Zielsystem für das europäische Eisenbahnnetz vorgesehen ist [EUV 1302/2014, 4.2.8.2, S. 295]. Da eine Umrüstung der bestehenden Netze mit sehr hohen Kosten verbunden ist und die Verfügbarkeit von Mehrsystemlokomotiven, welche unter verschiedenen Stromsystemen operieren können, gewährleistet ist, dürfen auch weiterhin Neubaustrecken mit 15kV/16,7 Hz, 3kV/DC und 1,5kV/DC geplant werden.
Im Kontext der oben aufgeführten unterschiedlichen Stromsysteme existieren in einigen Ländern Europas abweichende Normen bezüglich der Stromabnehmerkopfbreite. Hierbei handelt es sich um eine Art Lichtraumprofil zwischen Fahrzeug und Fahrdraht. Derzeit decken sich die Gebiete mit gleicher Stromabnehmerbreite nicht zwingend mit den Einsatzgebieten der Stromsysteme. Eine Übersicht über die existierenden Stromabnehmerkopfbreiten und ihre Einsatzgebiete zeigt Tabelle 2.
Tabelle 2: Unterschiedliche Stromabnehmerwippen in Europa (in Anlehnung an [ERI04b, S. 206])
Unterschiedliche Stromabnehmerwippen neu.png
Da Oberleitungen mit entsprechenden seitlichen Ausschlägen von der Gleismitte aufgehängt sind, müssen Mehrsystemfahrzeuge mit mehreren Stromabnehmern unterschiedlicher Breite ausgerüstet sein. Nach dem Beschluss der TSI "Fahrzeuge - Lokomotiven und Personenwagen" (EUV 1302/2014) vom November 2014 ist eine Vereinheitlichung der Stromabnehmerköpfe zu erwarten. Darin wurden die zu verwendenden Maße der Stromabnehmer für Neuauslegungen einheitlich definiert um die Interoperabilität der Bahnsysteme, im Bereich der Stromabnehmerwippen, zu verbessern [EUV 1302/2014, 4.2.8.2.9, S. 296ff.].
Ansprechpartner
Technische Universität Hamburg, Institut für Logistik und Unternehmensführung, Prof. Dr. Dr. h.c. W. Kersten
Zugehörige Wissenslandkarte(n)
Spezielle Rahmenbedingungen des grenzüberschreitenden Schienenverkehrs (Stand des Wissens: 18.07.2019)
https://www.forschungsinformationssystem.de/?337429
Literatur
[DVF97] Dipl.-Ing. Uwe Weiser , Dipl.-Ing. Philipp Zipf, Heimerl, Gerhard, em. Univ.-Prof. Dr.-Ing. Dr.-Ing. E.h. Die Eisenbahn im grenzüberschreitenden Verkehr, Bonn, 1997/03
[ERI04b] o.A. DB AG fordert mehr europäischen Wettbewerb im Güterverkehr durch effiziente Zulassungsverfahren, veröffentlicht in Eisenbahn-Revue international, Ausgabe/Auflage 5, MINIREX AG, Luzern, 2004/05, ISBN/ISSN 1421-2811
[PaFe09] Panier, Fank, Dipl.-Ing., Feuchter, Frank, Dipl.-Ing. Generationenaufgabe europaweite Standardisierung, veröffentlicht in Deine Bahn, Ausgabe/Auflage 12/09, Eisenbahn-Fachverlag GmbH / Mainz, 2009/12, ISBN/ISSN 0948-7263
Rechtsvorschriften
[2011/274/EU] Technische Spezifikation für die Interoperabilität: "Teilsystem Energie des konventionellen Eisenbahnsystems"
[2011/291/EU] Technische Spezifikation für die Interoperabilität: Teilsystem "Fahrzeuge" des konventionellen Eisenbahnsystems "Lokomotiven und Fahrzeuge im Personenverkehr"
[EUV 1302/2014] Verordnung über eine technische Spezifikation für die Interoperabilität des Teilsystem "Fahrzeuge - Lokomotiven und Personenwagen" des Eisenbahnsystems in der Europäischen Union
Glossar
Neubaustrecke Als Neubaustrecken bezeichnet man gänzlich neu errichtete Verkehrswege, die einem bestehenden Netz hinzugefügt werden. Im Eisenbahnwesen findet der Begriff zumeist auf für den Hochgeschwindigkeitsverkehr gebaute Strecken Anwendung, wobei diese entweder exklusiv durch Personenbeförderungsangebote oder gemeinsam mit dem Güterverkehr genutzt werden. Das konstruktive Anforderungsniveau von Neubaustrecken reicht dabei gemeinhin über die für Ausbaustrecken (ABS) geltende Anforderungen hinaus.
Zielsystem
In einem Zielsystem werden Ziele in einem hierarchischen Gefüge dargestellt. Ausgehend von einem Oberziel werden Leitlinien definiert. Zur Erfüllung dieser Leitlinien werden Handlungsfelder aufgespannt, welche wiederrum mit Handlungszielen versehen werden.
DC
Gleichstrom (englisch: Direct Current)
AC
Wechselstrom
Technical Specification for Interoperability Die Technical Specification for Interoperability (TSI) machen für Teilsysteme bzw. Teile von Teilsystemen der transeuropäischen (Hochgeschwindikgkeits-)Eisenbahnsysteme Vorgaben, um deren grundsätzliche (technische) Eignung sowie die Kompabilität untereinander zu gewährleisten. Dabei handelt es sich um eine unionsrechtliche, technische Vorschrift der Europäischen Kommission.
Mehrsystemlokomotive Auf Grund der bestehenden technischen Inkompabilitäten zwischen den Schienennetzen der einzelnen europäischen Länder werden im grenzüberschreitenden Verkehr Mehrsystemlokomotiven bzw. Mehrsystemzüge eingesetzt. Diese sind in der Lage, in mehr als einem nationalen Netz zu verkehren, da ihre Konstruktion insb. verschiedene Bahnstrom- und auch Leit- und Sicherungstechniksysteme berücksichtigt.
Lichtraumprofil Lichtraumprofil bezeichnet eine definierte Umgrenzungslinie meist für die senkrechte Querebene eines Fahrweges. Damit werden der "lichte Raum", der auf dem Fahrweg von Gegenständen freizuhalten ist, und die äußeren Maße der vorgesehenen Fahrzeuge vorgeschrieben.
Triebfahrzeug
Ein Triebfahrzeug (Tfz) ist ein einzelnes Regeleisenbahnfahrzeug mit einem eigenen Fahrzeugantrieb (Lokomotiven, Triebwagen). Eine Sonderform bilden Triebköpfe, die in einem fest gekoppelten Triebzug zusammen mit antriebslosen Mittel- und Steuerwagen betrieben werden. Lokomotiven kommen normalerweise im Verbund mit gekoppelten Reisezug- oder Güterwagen zum Einsatz. Triebwagen sowie auch Triebzüge werden als gekoppelten Einheiten gleichen Typs in sogenannten Triebwagenzügen eingesetzt. Weitere Tfz sind Kleinlokomotive und selbstfahrende Nebenfahrzeuge.

Auszug aus dem Forschungs-Informations-System (FIS) des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur

https://www.forschungsinformationssystem.de/?324814

Gedruckt am Montag, 27. März 2023 09:18:48