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European Train Control System (ETCS)

Erstellt am: 16.06.2010 | Stand des Wissens: 22.03.2024
Ansprechpartner
IKEM - Institut für Klimaschutz, Energie und Mobilität e.V.
Karlsruher Institut für Technologie (KIT), Institut für Volkswirtschaftslehre (ECON), Prof. Dr. Kay Mitusch

Die bestehenden deutschen Zugbeeinflussungssysteme PZB und LZB erfüllen heutige Anforderungen des nationalen Schienenverkehrs, sodass unzulässige Abweichungen von der erlaubten Fahrweise durch automatische Schutzreaktionen effektiv unterbunden werden können [Neuh05, S. 171]. Zurzeit sind aber lediglich Triebfahrzeuge mit Mehrsystemausrüstung für verschiedene Zugbeeinflussungssysteme in der Lage, einen durchgehenden grenzüberschreitenden Verkehr zu realisieren. Dies ist langfristig keine tragfähige Lösung für den europäischen Eisenbahnverkehrssektor. Ziel des 1992 von den UIC-Bahnen gemeinsam mit der Industrie initiierten Projekts European Train Control System (ETCS) ist die Schaffung einer harmonisierten europäischen Zugbeeinflussung. Im Jahr 2005 wurde die Einführung des europäischen Zugsicherungssystems beschlossen [EuKom05] und dieses auf Basis der Technischen Spezifikation für die Interoperabilität (TSI) der Teilsysteme "Zugsteuerung, Zugsicherung und Signalgebung" ausführlich technisch definiert und beschrieben [2012/88/EU Art. 7 zur bes. Beachtung]. Das ETCS, welches den Kernbereich des ERTMS-Projekts (vgl. hierzu bspw. [Wint06b]) darstellt, soll nicht die nationalen Signal- und Sicherungssysteme vereinheitlichen, sondern führt ausschließlich zu einer Harmonisierung der Informationsübertragung zwischen Fahrzeug und Fahrweg. Die über die Komponenten des ETCS zu übertragenden Informationen können aus vorhandenen Sicherungssystemen gewonnen werden [Pach00, S. 729 f.].

Dieses Vorgehen basiert auf der Tatsache, dass die bestehenden Streckeneinrichtungen der verschiedenen Bahnen nicht innerhalb kurzer Zeit mit wirtschaftlich vertretbarem Aufwand in einen einheitlichen Standard überführt werden können. Daher wird ein Konzept verfolgt, dass es zum einen erlaubt, mit einer einheitlichen Fahrzeugausrüstung die mit den bislang verschiedenen Techniken ausgerüsteten Strecken zu befahren. Zum anderen sind, je nach Ausbaustufe der Strecken mit neuer ETCS-Infrastruktur, verschiedene Funktions-Level für das europäische Zugsicherungs- und -steuerungssystem vorgesehen. Dies setzt eine offene Systemarchitektur und einen hohen Grad an Modularität der Konzeption voraus.

Es lassen sich drei Funktionsstufen (so genannte Level) des ETCS unterscheiden: In der ersten Stufe (Level 1) stellt es ein punktförmig kommunizierendes Schutzsystem dar, das die konventionellen Signalanlagen an der Strecke überlagert. In einer zweiten Stufe (Level 2) fungiert das ETCS bereits als Führerstand-Signalisierungssystem, dem eine ständige Kommunikation mit der streckenseitigen Infrastruktur zugrunde liegt. Die Strecke ist dabei allerdings immer noch in feste Blockabschnitte unterteilt. Erst in der dritten Stufe (Level 3) können die ortsfesten Einrichtungen zur Erfassung der Gleisbelegung entfallen, wodurch eine deutliche Reduktion der Streckenausrüstung und damit der Infrastrukturkosten ermöglicht wird. Dies ermöglicht ferner die Fahrt im relativen Bremswegabstand, was die Kapazität der Strecken stark erhöht. [EuKo24, DBAG10a, S. 10, DBAG12t, S. 31f.]. (Details zu den betrieblichen Auswirkungen der unterschiedlichen Stufen finden sich bspw. in [Eich07a]).

Nationale Implementierung von ETCS
Der deutsche Umsetzungsplan für das European Train Control System stammt vom 18. Juli 2003. In Abstimmung mit der DB AG und der deutschen Bahnindustrie sieht er vor, dass die Linienzugbeeinflussung (LZB) als nationales Zugsicherungssystem für den Hochgeschwindigkeitsverkehr nicht weiterentwickelt wird. Die Nachfolge tritt stattdessen ETCS an [Neuh05, S. 175]. Ursprünglich sollten bis zum Jahr 2020 ca. 4800 Strecken-km des deutschen Eisenbahnnetzes mit der neuen Technik ausgerüstet sein und weitere 4200 km nach 2020 folgen [BoSc08, S. 663]. Die Implementierung verläuft jedoch nur schleppend, wobei sich die Bundesrepublik Deutschland auf die Korridore der transeuropäischen Verkehrsnetze (TEN-V) sowie Neubaustrecken, auf denen nur noch das neuartige System subventioniert wird, fokussiert.

Geplante ETCS-Korridore in DeutschlandAbbildung 1: Geplante ETCS-Korridore in Deutschland [aus DBAG12t, S. 34]


Die Europäische Kommission hat Deutschland 2009 zur Einführung des Systems auf den Korridoren bis 2015 bzw. 2020 verpflichtet, wobei die Kosten auf 4,5 Millionen Euro geschätzt wurden. Im Juli 2011 kündigte Verkehrsminister Ramsauer an, diese Investition vorerst auszusetzen, was zur Folge hatte, dass Deutschland die gesetzten Fristen nicht einhalten konnte. [DeBu11b]

Abbildung 2 gibt eine Übersicht über die Streckenabschnitte, auf denen eine Einführung von ETCS geplant ist. Dabei ist insbesondere auf die Differenz der summierten Abschnittslängen (1267 km) gegenüber den noch vor wenigen Jahren geplanten und oben genannten 8000 km hinzuweisen.

Übersicht über geplante ETCS-Strecken in DeutschlandAbbildung 2: Übersicht über geplante ETCS-Strecken in Deutschland [eigene Darstellung nach DeBu11b, S. 3]
Ansprechpartner
IKEM - Institut für Klimaschutz, Energie und Mobilität e.V.
Literatur
[BoSc08] Boehmer, Ariane, Schweinsberg, Ralf Der nationale Umsetzungsplan zur Einführung von ERTMS/ETCS, veröffentlicht in Eisenbahntechnische Rundschau, Ausgabe/Auflage 10/2008, DVV Media Group GmbH / Hamburg , 2008/10, ISBN/ISSN 0013-2845
[DBAG10a] Leining, Michael, Dr. Auswirkungen infrastrukturseitiger ETCS Migration auf Eisenbahnverkehrsunternehmen - Betrieblich-Technische Kundenveranstaltung 2010, Kassel, 2010/05/18
[DBAG10p] o. A. In der Umsetzung befindliche und geplante ETCS Migrationsprojekte (Stand Februar 2010), Frankfurt, 2010/02
[DBAG12t] Kissel, Norbert, Küpper, Johannes Mit ETCS auf dem Weg zu einem grenzenlosen Europa, veröffentlicht in Deine Bahn, Ausgabe/Auflage 11/2012, Bahn Fachverlag GmbH / Berlin , 2012/11, ISBN/ISSN 0948-7263
[DeBu11b] o.A. Kleine Anfrage: Sachstand Ausbau von ERTMS/ETCS auf Bahnstrecken, Berlin, 2011/11/08
[Eich07a] Eichenberger, Peter, Dr. sc. techn. ETH Kapazitätssteigerung durch ETCS, veröffentlicht in Signal + Draht, Ausgabe/Auflage 03/07, Eurailpress Tetzlaff- Hestra GmbH & Co.KG/Hamburg, 2007/03, ISBN/ISSN 0037-4997
[EuKo24] Europäische Kommission ETCS Levels and Modes, 2024
[EuKom05] o.A. Mitteilung der Kommission an das europäische Parlament und den Rat über die Einführung des Europäischen Zugsicherungs-/Zugsteuerungs- und Signalgebungssystems ERTMS/ETCS, Brüssel, 2005/07/04
[Neuh05] Neuhöfer, Wolfram Die politischen Ziele und Rahmenbedingungen für die Implementierung des ETCS in Deutschland und Europa, veröffentlicht in ZEVrail Glasers Annalen, Ausgabe/Auflage 5, 2005/05, ISBN/ISSN 1618-8330
[Pach00] Pachl, Jörn, Univ.-Pof. Dr.-Ing. Zugbeeinflussungssysteme europäischer Bahnen, veröffentlicht in Eisenbahntechnische Rundschau, Ausgabe/Auflage 11, Hestra-Verlag, Darmstadt, 2000/11, ISBN/ISSN 0013-2845
[Wint06b] Winter, Peter, Dr. sc. techn. UIC-Konferenz zur Einführung des European Rail Traffic Management Systems in Budapest, veröffentlicht in Eisenbahn Revue International, Ausgabe/Auflage 6, Minirex, 2006/06
Glossar
Linienförmige Zugbeeinflussung Unter linienförmiger Zugbeeinflussung versteht man ein System zur Sicherung des Fahrens im festen Raumabstand. Die Informationsübertragung zwischen Infrastruktur und Fahrzeug erfolgt kontinuierlich. LZB-Systeme arbeiten generell mit Führerraumsignalisierung. Somit kann während des Regelbetriebes auf ortsfeste Signale verzichtet werden, sie dienen lediglich als Rückfallebene im Störungsfall.
Neubaustrecke Als Neubaustrecken bezeichnet man gänzlich neu errichtete Verkehrswege, die einem bestehenden Netz hinzugefügt werden. Im Eisenbahnwesen findet der Begriff zumeist auf für den Hochgeschwindigkeitsverkehr gebaute Strecken Anwendung, wobei diese entweder exklusiv durch Personenbeförderungsangebote oder gemeinsam mit dem Güterverkehr genutzt werden. Das konstruktive Anforderungsniveau von Neubaustrecken reicht dabei gemeinhin über die für Ausbaustrecken (ABS) geltende Anforderungen hinaus.
Hochgeschwindigkeitsverkehr Als Hochgeschwindigkeitsverkehr (HGV) werden Zugfahrten von Trieb[wagen]zügen (sog. Hochgeschwindigkeitszüge) bzw. dafür geeigneten lokbespannten Zügen mit mehr als 200 km/h Spitzengeschwindigkeit auf extra dafür [um]gebauten HGV-Strecken bezeichnet.
ETCS
Standard eines EU-weit harmonisierten Zugbeeinflussungssystems, welches im Falle einer entsprechenden Streckeninfrastrukturausstattung und Fahrzeugertüchtigung die unterbrechungsfreie Durchführung grenzüberschreitender Schienenverkehre ermöglicht, ohne zu diesem Zweck das triebfahrzeugseitige Mitführen unterschiedlicher, auf nationaler Ebene verwendeter Systemkomponenten vorauszusetzen.

Mit Hilfe von Zugbeeinflussungssystemen lassen sich auf dem Streckennetz stattfindende Fahrten beispielsweise hinsichtlich einer Einhaltung erlaubter Höchstgeschwindigkeiten oder der Befolgung signalisierter Befehle überwachen, um gegebenenfalls automatische Schutzreaktionen auszulösen. So können etwa Triebfahrzeuge, welche ein Halt zeigendes Signal überfahren, selbsttätig zum Stillstand gebracht werden.

In Zukunft wird der automatische Zugbetrieb (Automatic Train Operation, ATO) auf Grundlage des ECTS gebaut.
Punktförmige Zugbeeinflussung Die im Schienenverkehr verwendete punktförmige Zugbeeinflussung ist eine diskontinuierliche Methode zur Sicherung des Fahrens im festen Raumabstand. Die Zugbeeinflussung erfolgt ortsfest, daher punktförmig. Ihr Einsatz ist nur bis zu einer Höchstgeschwindigkeiten von 160 km/h zulässig.
European Rail Traffic Management System
Das European Rail Traffic Management System (ERTMS) ist ein Projekt, dessen Ziel es ist, durch Schaffung von einheitlichen Standards für die infrastruktur- und fahrzeugseitige Eisenbahnsicherungtechnik die EU-weite Interoperabilität des Schienenverkehrs zu erreichen.
Das Projekt zielt auf die vier Bereiche Traffic Management (Betriebsleittechnik), Signalling (Stellwerkstechnik), Train Control System (Zugbeeinflussung) und Voice and Data Communikation (Zugfunk) ab. Konkrete Projekte innerhalb des ERTMS sind Europtirails (grenzüberschreitenden Austausch von Zuglaufinformationen), INESS (Vereinheitlichung der Stellwerkstechnik), ETCS (Zugbeeinflussungssystem) und GSM-R (Zugfunksystem).
Technical Specification for Interoperability Die Technical Specification for Interoperability (TSI) machen für Teilsysteme bzw. Teile von Teilsystemen der transeuropäischen (Hochgeschwindikgkeits-)Eisenbahnsysteme Vorgaben, um deren grundsätzliche (technische) Eignung sowie die Kompabilität untereinander zu gewährleisten. Dabei handelt es sich um eine unionsrechtliche, technische Vorschrift der Europäischen Kommission.
Trans-European Transport Network Das Trans-European Transport Network, TEN-T (dt. Transeuropäisches Verkehrsnetz, kurz TEN-V) ist ein Teilnetz der sog. Trans-European Networks, TEN (dt. Transeuropäische Netze, kurz TEN). Zu diesen zählen neben den Verkehrsnetzen bspw. auch Netzwerke der Telekommunikation oder der Energieversorgung.
Triebfahrzeug
Ein Triebfahrzeug (Tfz) ist ein einzelnes Regeleisenbahnfahrzeug mit einem eigenen Fahrzeugantrieb (Lokomotiven, Triebwagen). Eine Sonderform bilden Triebköpfe, die in einem fest gekoppelten Triebzug zusammen mit antriebslosen Mittel- und Steuerwagen betrieben werden. Lokomotiven kommen normalerweise im Verbund mit gekoppelten Reisezug- oder Güterwagen zum Einsatz. Triebwagen sowie auch Triebzüge werden als gekoppelten Einheiten gleichen Typs in sogenannten Triebwagenzügen eingesetzt. Weitere Tfz sind Kleinlokomotive und selbstfahrende Nebenfahrzeuge.

Auszug aus dem Forschungs-Informations-System (FIS) des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur

https://www.forschungsinformationssystem.de/?322409

Gedruckt am Donnerstag, 28. März 2024 19:59:07