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Berücksichtigung der Mobilitätsbedürfnisse von Kindern und Jugendlichen in Gesetzen

Erstellt am: 28.06.2006 | Stand des Wissens: 19.01.2021
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TU Dresden, Professur für Integrierte Verkehrsplanung und Straßenverkehrstechnik, Prof. Dr.-Ing. Regine Gerike

Kinder- und Jugendrechte sind auf allen Ebenen des Rechts verankert. Insbesondere Gesetze des Bundes und der Länder wirken sich direkt und indirekt auf die Mobilitätsbedingungen von Kindern und Jugendlichen aus [Krau05b, S. 110]. Die wesentlichen Bestimmungen, die Kinder und Jugendliche sowie die damit verbundenen kritischen Punkte betreffen, sind im Folgenden aufgeführt [Krau05b].
1) Straßenverkehrsordnung (StVO)
  1. Radfahren von Kindern auf dem Gehweg: Die Straßenverkehrsordnung [StVO] ermöglicht Kindern durch § 2 (5) StVO einen Schutzraum zum Radfahren. Radwege dürfen von Kindern unter acht Jahren nicht benutzt werden, außer er ist baulich von der Fahrbahn getrennt. Kinder müssen bis zum achten Lebensjahr, beziehungsweise dürfen bis zum zehnten Lebensjahr auf dem Gehweg fahren. Wird ein Kind bis zum vollendeten achten Lebensjahr von einer geeigneten Aufsichtsperson begleitet, so darf diese für die Dauer der Begleitung ebenfalls den Gehweg benutzen.
  2. Auch Jugendliche und Erwachsene dürfen in dem Lastenrad mitfahren: Bisher durften in Deutschland nur Kinder bis sieben Jahre im Lastenrad mitgenommen werden. Ab sofort dürfen auch Menschen jenseits des Kinderalters auf Fahrrädern mitgenommen werden, die zur Personenbeförderung gebaut sind.
  3. Nebeneinanderfahren von Radfahrernden: Die StVO-Novelle aus dem Jahr 2020 erlaubt nebeneinander mit dem Rad zu fahren, sofern anderer Verkehr nicht behindert wird und ausreichend Platz zum Überholen bleibt.
  4. Gefährdungsausschlussgebot: Durch das Gefährdungsausschlussgebot wurde 1980 ein wichtiges Regelungsinstrument in die StVO eingeführt. Die Wirkungsweise ist weniger als präventiv und eher als reaktiv zu beurteilen. Es gibt somit eine klare Haftung des Fahrzeugführers bei einem Unfall. Untersuchungen haben ergeben, dass diese Regelung bei Kraftfahrern wenig bekannt war und auch kaum auf Akzeptanz stößt [BAST05a, S. 113].
  5. Geschwindigkeitsbegrenzung: Um die Interessen von Kindern und Jugendlichen zu berücksichtigen, sind insbesondere angepasste Geschwindigkeiten des innerörtlichen Kfz-Verkehrs sowie die Möglichkeiten des Aufenthalts und Spiels im Straßenraum entscheidend. Die StVO ermöglicht durch das Zeichen Z 325 ("Verkehrsberuhigter Bereich") sowie durch die Zusatzschilder zu den Zeichen Z 101 ("Gefahrstelle") und Z 250 ("Verbot für Kraftwagen und sonstige mehrspurige Kraftfahrzeuge") das Spielen auf der Fahrbahn und dem Seitenstreifen. In Tempo-30-Zonen ist das Kinderspiel auf der Fahrbahn grundsätzlich verboten. Eine Geschwindigkeitsbeschränkung auf 30 Kilometer pro Stunde gilt als kinderfreundlich, da bei Einhaltung die Zahl der Unfälle und die Unfallfolgen deutlich vermindert werden. Zudem wird die Aufenthaltsqualität im Seitenraum gesteigert. Durch die StVO-Novelle im Jahr 2000 wurde die Anordnung von Tempo-30-Zonen auf Straßen des überörtlichen Verkehrs und auf Vorfahrtstraßen (Zeichen 306) ausgeschlossen. Es besteht dort auch die Möglichkeit die zulässige Höchstgeschwindigkeit auf Strecken mittels Zeichen 274 ("zulässige Höchstgeschwindigkeit") auf 30 Kilometer pro Stunde zu begrenzen.
  6. Neue Verkehrszeichen: Mit der StVO-Novelle im Jahr 2020 existieren nun die rechtlichen Voraussetzungen für die Einrichtung einer Fahrradzone. Mit diesem neuen Verkehrsschild haben Radfahrer Vorrang. So können größere Bereiche nach den Regeln für Fahrradstraßen eingerichtet werden. Autos dürfen höchstens 30 Kilometer pro Stunde fahren und müssen hinter Radfahrernden zurückbleiben. Desweiteren gibt es ein neues Zeichen für den Radschnellweg und einen Grünpfeil für rechtsabbiegende Radfahrer an einer roten Ampel.
Generell sind die Gesetze der StVO eher Auto orientiert, die Grundrechte der Nicht-Autofahrenden sind teilweise gar nicht erwähnt oder nur daraufhin untersucht wurden, ob der Staat eingreifen muss, um diese zu wahren [BAST05a, S. 111]. Die Nachfrage nach kinderfreundlichen Regelungen für ruhenden und fließenden Kfz-Verkehr ist groß: Straßenraum für Kinder nach wie vor ein wichtiger Aufenthaltsort und in vielen Wohnquartieren sei er geradezu die einzige Möglichkeit, kinderfreundliche und spielfördernde Maßnahmen durchzuführen [BAST05a, S. 114]. Durch die vom Kfz beherrschte Situation im Straßenraum werden Kinder und Jugendliche jedoch mehr und mehr verdrängt. Diesen Missstand gilt es auszugleichen: "Es seien daher aus Sicht des Fußverkehrs grundlegende Änderungen vonnöten" [BAST05a, S. 114].
2) Verwaltungsvorschrift zur StVO (VwV-StVO)
Auch die Verwaltungsvorschrift zur StVO [VwV-StVO] wird kritisiert, da sie kaum auf die Belange von Fußgängern und damit auch von Kindern und Jugendlichen ausgerichtet sei, sondern vielmehr auf die Belange von Pkw-Fahrern [BAST05a, S. 117f.].
3) Fahrerlaubnis-Verordnung (FeV)
Das Mindestalter für den Erwerb der Fahrerlaubnis B (Kraftfahrzeuge, ausgenommen Krafträder, mit einer zulässigen Gesamtmasse von nicht mehr als 3,5 Tonnen und mit nicht mehr als acht Sitzplätzen) beträgt derzeit 18 Jahre [FeV].
In den ersten zwei Jahren wird der Führerschein zunächst auf Probe ausgestellt. Für den Fall, dass ein Fahranfänger im Straßenverkehr während der Bewährungszeit auffällig wird, sieht der Gesetzgeber in Abhängigkeit der Schwere des Verstoßes bestimmte Maßnahmen vor.
In Deutschland gibt es die Möglichkeit, den Führerschein bereits im Alter von 17 Jahren zu erwerben. Bis zum Beginn des 18. Lebensjahres ist das Führen des Pkws nur in Begleitung eines Erziehungsberechtigten möglich.
Das "Begleitete Fahren ab 17" wurde zuerst im April 2004 in Niedersachsen eingeführt, um die hohen Unfallzahlen von Fahranfängern zu senken. Die erworbene Fahrerlaubnis ist bis zum 18. Lebensjahr und nur in Anwesenheit einer Begleitperson, die vorher angegeben werden muss, gültig. Der Führerschein ist nur in Deutschland gültig, enthält ebenfalls die allgemeine zweijährige Probezeit und für den Fahrer gilt die Null-Promille-Grenze. Weitere Informationen enthält der § 48a der Fahrerlaubnis-Verordnung [FeV].
4) Vorschlag zu einem kommunalen Straßenverkehrsplanungsrecht
Das Straßenverkehrsrecht hat ordnungsrechtlichen Charakter und ist damit ein reines Gefahrenabwehrrecht. In der Rechtswissenschaft wird dieser Ansatz teilweise kritisiert. Vorgeschlagen wird eine planungsrechtliche Konzeption, die steuern kann, bevor die Gefahren auftreten. Durch diesen Ansatz könnten auch die Belange von Kindern und Jugendlichen besser berücksichtigt und umgesetzt werden [BAST05a, S. 120 ff.].
5) Baugesetzbuch (BauBG)
Die Berücksichtigung der Belange von Kindern und Jugendlichen wird in dem § 1 des Baugesetzbuches [BauGB] geregelt. Allerdings bestehen in der Realität Mängel hinsichtlich der praktischen Umsetzung dieser Regelung. Häufig werden spezifische Flächen für Kinder und Jugendliche vorgesehen, wie zum Beispiel Spiel- und Sportplätze. Es fehlt jedoch an einem bauplanungsrechtlichen Instrumentarium zur systematischen Verkehrsreduzierung oder Verkehrsberuhigung. Für die Schaffung eines kinder- und jugendfreundlichen Umfelds wird das Baugesetzbuch (insbesondere § 9) nicht voll ausgeschöpft [BAST05a, S. 122 f.]. Die Belange von Kindern und Jugendlichen im Straßenverkehr sollten einen ebenso großen Bedeutungszuwachs erhalten, wie es die Belange des Naturschutzes in den letzten Jahrzehnten bekommen haben.
6) Landesbauordnungen

Die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen werden in den Landesbauordnungen kaum berücksichtigt. Dies bezieht sich sowohl auf die Regelungen zu Gebäuden als auch auf die Benachteiligung der Verkehrsmittel des Umweltverbundes, die von Kindern und Jugendlichen am Häufigsten genutzt werden, sofern sie selbständig unterwegs sind (Fuß, Rad und Öffentlicher Personennahverkehr) "[diese] werden in den Landesbauordnungen systematisch und strukturell benachteiligt" [BAST05a, S. 124 f.].
7) Straßenrecht des Bundes
Die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen werden in den Richtlinien für die Planfeststellung nach dem Bundesfernstraßengesetz [PlafeR 07] nicht explizit angesprochen. Sie wurden ausschließlich als Abwägungsbelang aufgeführt. Dennoch beeinflussen auch Bundesstraßen innerorts durch negative Effekte wie Trennwirkungen oder Emissionen das Lebensumfeld von Kindern und Jugendlichen. Da diese Richtlinien auch für die Anwendung auf andere Straßen, wie beispielsweise Kreisstraßen, empfohlen werden, sind die Belange von Kindern und Jugendlichen generell weitestgehend unberücksichtigt. [BAST05a, S. 126]
Der Gesetzgeber muss an dieser Stelle handeln und entsprechende Richtlinien ergänzen.
8) Immissionsschutzrecht
Gesetzliche Grenzwerte für Schadstoffbelastungen werden auf den Körper eines Erwachsenen bezogen [BAST05a, S. 127]. Strengere Grenzwerte sind für die Gesundheit von Kindern aufgrund des geringeren Körpergewichts und der erhöhten Exposition sinnvoll. In der RICHTLINIE 2008/50/EG [2008/50/EG] werden Kinder lediglich dahingehend erwähnt, dass im Falle des Überschreitens von Grenzwerten zusätzliche Maßnahmen für empfindliche Bevölkerungsgruppen, einschließlich Kindern, getroffen werden können.
Zusammengefasst finden die Bedürfnisse von Kinder und Jugendlichen in Gesetzen wenig bis keine Berücksichtigung. Die Gründe dafür sind unter anderem, dass die besonderen körperlichen und geistigen Eigenschaften von Kindern und Jugendlichen nicht beachtet werden und dass die junge Generation zum Großteil zu Fuß geht oder mit Fahrrad und Öffentlichen Personenverkehr fährt. Diese Verkehrsmodi wurden über viele Jahrzehnte systematisch dem autofreundlichen Verkehrsnetz untergeordnet, was sich auch in den Richtlinien und Gesetzen wiederspiegelt. Diesen "Rückstand" wieder aufzuholen, ist eine wichtige aber auch komplizierte Aufgabe, da an dieser Stelle verschiedene Interessen in Konflikt geraten.
Ansprechpartner
TU Dresden, Professur für Integrierte Verkehrsplanung und Straßenverkehrstechnik, Prof. Dr.-Ing. Regine Gerike
Zugehörige Wissenslandkarte(n)
Mobilität von Kindern und Jugendlichen (Stand des Wissens: 31.03.2021)
https://www.forschungsinformationssystem.de/?195757
Literatur
[BAST05a] Bundesanstalt für Straßenwesen (Hrsg.) Mobilitätsbedürfnisse von Kindern und Jugendlichen im Straßenverkehrs- und Baurecht, 2005/07
[Krau05b] Krause, J. , Kettler, D. , Angermüller, A., Beckmann, Klaus, Univ.-Prof. Dr.-Ing., Erke, Heiner, Prof. Dr. Dipl.-Psych., Jürgens, Claudia, Dipl.-Ing. Mobilitätsbedürfnisse von Kindern und Jugendlichen im Straßenverkehrs- und Baurecht. Vorläufiger Schlussbericht zum FE- Vorhaben 77.465/2002, Braunschweig/Aachen, 2005
Weiterführende Literatur
[DVW14] Deutsche Verkehrswacht (DVW) e.V. Begleitetes Fahren ab 17 (BF 17), 2014
[2008/50/EG] EU-Richtlinie 2008/50/EG über Luftqualität und saubere Luft für Europa
[BauGB] Baugesetzbuch (BauGB)
[EU1999/30] EU-Richtlinie 1999/30/EG
[FeV] Fahrerlaubnis-Verordnung
[PlafeR 07] Richtlinien für die Planfeststellung nach dem Bundesfernstraßengesetz
[StVO] Straßenverkehrs-Ordnung (StVO)
[VwV-StVO] Verwaltungsvorschrift zur StVO
Glossar
Umweltverbund
Unter dem Begriff Umweltverbund wird die Kooperation der umweltfreundlichen Verkehrsmittel verstanden. Hierzu zählen die öffentlichen Verkehrsmittel (Bahn, Bus und Taxis), nicht motorisierte Verkehrsträger (Fußgänger und private oder öffentliche Fahrräder), sowie Carsharing und Mitfahrzentralen. Ziel ist es, Verkehrsteilnehmern zu ermöglichen, ihre Wege innerhalb des Umweltverbunds, anstatt mit dem eigenen Pkw, zurückzulegen. Zunehmend wird der Begriff Mobilitätsverbund genutzt.
Öffentlicher Personennahverkehr
Der öffentliche Personennahverkehr ist juristisch im Personenbeförderungsgesetz (PBefG) definiert. Laut Paragraf 8, Absatz 1 und 2 umfasst der ÖPNV "die allgemein zugängliche Beförderung von Personen mit Straßenbahnen, Obussen und Kraftfahrzeugen im Linienverkehr, die überwiegend dazu bestimmt sind, die Verkehrsnachfrage im Stadt-, Vorort- oder Regionalverkehr zu befriedigen". Taxen oder Mietwagen können dieses Angebot ersetzten, ergänzen oder verdichten.
Der Begriff ÖPNV bezieht sich in der Regel auf Strecken mit einer gesamten Reiseweite von weniger als 50 Kilometern oder einer gesamten Reisezeit von weniger als einer Stunde. Das in einer Stadt oder Region erforderliche Nahverkehrsangebot und dessen Eignung hinsichtlich Nachhaltigkeit und Klimaschutz wird in einem Nahverkehrsplan definiert und festgehalten.
StVO Die Straßenverkehrsordnung  legt Regeln für sämtliche Straßenverkehrsteilnehmer fest und bildet somit eine Rechtsverordnung der Bundesrepublik Deutschland.

Auszug aus dem Forschungs-Informations-System (FIS) des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur

https://www.forschungsinformationssystem.de/?197096

Gedruckt am Donnerstag, 28. März 2024 20:13:40