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Mobilitätsbedürfnisse verschiedener Personengruppen

Erstellt am: 14.10.2004 | Stand des Wissens: 15.12.2023
Synthesebericht gehört zu:
Ansprechpartner
Institut für Mobilitäts- und Stadtplanung, Universität Duisburg-Essen, Prof. Dr.-Ing. Dirk Wittowsky
TU Dresden, Professur für Kommunikationswirtschaft, Prof. Dr. Ulrike Stopka

Mobilitätsbedürfnisse und Verkehrsverhalten stehen in der Regel in einem engen Zusammenhang mit der sozialen Einbindung von Personen, der räumlichen Lage von Gelegenheiten und dem Verkehrsangebot. Die soziale Einbindung beinhaltet Merkmale wie Alter, Geschlecht, Führerscheinbesitz und Pkw-Verfügbarkeit, Stellung im Erwerbsprozess, im Haushalt bzw. im Lebenszyklus einer Person [Mehl01a, S. 102].
Aus den genannten Merkmalen können in der Verkehrswissenschaft sogenannte "verhaltenshomogene Gruppen" gebildet werden. Darunter versteht man die Aufteilung von Personen anhand ihres ähnlichen Verhaltens in Gruppen. Innerhalb der Gruppen unterscheiden sich die Verhaltensmuster kaum, während die Gruppen sich untereinander deutlich voneinander abgrenzen. [Stei05, S. 262]. In der Verkehrspraxis gibt es verschiedene Gruppierungen.
Nach [Kut72] werden die Gruppen mittels Cluster- und Faktorenanalyse bestimmt. Heute erfolgen Gruppeneinteilungen häufig anhand von vorhandener oder fehlender Pkw-Verfügbarkeit. Darüber hinaus lassen sich Lebensspannen und Biographien charakteristische Mobilitätsbedürfnisse und -verhaltensformen zuordnen [Mack94].
Beispielhaft seien einige Gruppierungen angegeben, die aber sehr unterschiedlich abgegrenzt werden können:
1. Babys und Kleinkinder
Kinder im Alter von 0 bis 3 Jahren haben nur ein begrenztes eigenständiges Mobilitätsverhalten [Mack94, S. 395]. Bei Bewegungen im öffentlichen Raum werden sie in der Regel von einer Betreuungsperson begleitet, die gegebenenfalls. einen Kinderwagen zur Beförderung benutzt. Einkaufsstätten, Behörden, Fahrzeuge des Öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) sollten die Zugänglichkeit für Kinderwagen, damit auch für alle übrigen mobilitäteingeschränkten Personen, gewährleisten. Fußgängeranlagen sollten sowohl für Kinderwagen benutzbar sein, aber auch die sichere, selbstständige Bewegung von Kindergartenkindern ermöglichen [Mack94, S. 395].
2. Schüler bis einschließlich 17 Jahren
Kinder und Jugendliche haben das Bedürfnis zur Kommunikation mit Gleichaltrigen sowie zur Bewältigung des Schulweges. Personen der Altersgruppe zwischen 6 und 17 Jahren bewegen sich auf dem Weg zur Schule in der Regel zu Fuß, mit dem Rad oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln [infas10]. Der Modal-Split dieser Personengruppe ist vor allem auf die fehlende Führerscheinverfügbarkeit zurückzuführen. Darüber hinaus werden zumeist relativ kurze Entfernungen zurückgelegt. Sind Schüler in Randbereichen der Städte oder in ländlichen Räumen beheimatet, sind die Wege häufig weiter.
3. Auszubildende und Berufsanfänger
Auszubildende und Berufsanfänger haben sowohl Berufswege als auch Wege zur Ausbildungsstätte zu absolvieren und sind durch eine überproportionale Teilnahme am Freizeitverkehr charakterisiert. Dies gilt sowohl an Wochentagen als auch an den Wochenenden, wobei an Wochenenden eine noch ausgeprägtere Partizipation am Freizeitverkehr zu beobachten ist. Diese resultiert aus dem Kommunikations- und Lernbedürfnis dieser Gruppe. Das häufigste genutzte Verkehrsmittel in dieser Gruppe ist der Pkw [Mack94, S. 399].
4. Schüler der Sekundarstufe und Studierende
Schüler der weiterführenden Schulen:
Schüler weiterführender Schulen (älter als 18 Jahre) nutzen neben nichtmotorisierten Verkehrsmitteln oder dem ÖPNV zunehmend Krafträder oder den Pkw. Motorisierte Verkehrsmittel werden dabei besonders bei weiteren Schulwegen oder bei Schülern/Studenten in ländlich geprägten Gebieten genutzt [Mack94, S. 398].
Studierende:
Studierende haben weniger einheitliche Tages- und Wochenpläne. Demnach konkurrieren sie in aller Regel wenig mit dem Berufsverkehr. Ihre Mobilität konzentriert sich im Allgemeinen räumlich auf wenige Hochschulstandorte und bestimmte Stadtgebiete [Mack94, S. 398].
5. Erwerbstätige
Das Mobilitätsverhalten von Erwerbstätigen wird durch die Teilnahme am Berufsverkehr dominiert, das heißt dem Weg zwischen Wohnung und Arbeitsstätte. Letztere kann auch veränderbar sein. Ver- und Besorgungswege werden oft mit dem Weg von oder zur Arbeit in Form von Wegeketten kombiniert. Erhebungen zum Verkehrsverhalten (z. B. [infas10; SrV09]) differenzieren die verhaltenshomogenen Gruppen in der Regel nicht nach der Berufsgruppe. Allerdings hat diese nach [Mack94] zum Teil erheblichen Einfluss auf das Verkehrsmittelwahl- und Mobilitätsverhalten. Das Verkehrsverhalten ist neben dem Berufsverkehr durch den Geschäftsverkehr bestimmt. Der ÖPNV-Anteil an der Verkehrsmittelwahl ist bei dieser Gruppe eher unterrepräsentiert. Für Selbstständige ist neben dem Berufsverkehr insbesondere der Geschäfts- und Lieferverkehr von existentieller Bedeutung. Der ÖPNV wird im Gegensatz dazu als wenig attraktiv eingeschätzt [Mack94, S. 398].
6. Nichterwerbstätige
Hausfrauen/Hausmänner:
Hausfrauen und Hausmänner sind in der Regel "auf die Einkünfte Anderer angewiesen" [Mack94, S. 411]. Deshalb stehen "Erfordernisse der Alltagsbewältigung vor den Wünschen nach Erholung und Unterhaltung" [Mack94, S. 411]. Sie sind vor allem für die Versorgung der Haushaltsangehörigen und hier insbesondere von Kindern verantwortlich. Ihre Wege richten sich zumeist auf die Einkaufs- und Versorgungszentren [Mack94, S. 411]. Waren Hausfrauen und -männer nach [Mack94] früher verstärkt auf den ÖPNV angewiesen, wird heute zunehmend auch der Pkw bei entsprechendem Pkw-Zugang genutzt.
Arbeitslose:
Arbeitslose bemühen sich nach [Mack94] um ein möglichst unauffälliges Verhalten in der Öffentlichkeit und eine annähernde Aufrechterhaltung ihres Lebensstils, besonders des Kommunikations- und Mobilitätsverhaltens. Die Intensität des Mobilitätsverhaltens ist jedoch geringer als das während der Zeit der Erwerbstätigkeit [Mack94, S. 413].
Rentner:
Mit dem Ausscheiden aus dem Berufsleben ist eine grundlegende Veränderung des Mobilitätsverhaltens verbunden. Die Anzahl der Mobilitätsaktivitäten ist mit zunehmendem Alter rückläufig und überwiegend ortsgebunden. Die im fortschreitenden Alter zunehmend schwierigere Bewältigung von Wegen führt ebenfalls zu einer Verringerung der Aktivitäten [HaHu08a]. Die Gruppe der Rentner lässt sich allerdings in Untergruppen je nach Altersstufe (beispielsweise frühes Rentenalter, hohes Rentenalter) einteilen, denen ein unterschiedliches Mobilitätsverhalten zugeordnet werden kann. Beispielsweise nimmt die Wegehäufigkeit nach [DVWG11] erst ab einem Alter von 70 Jahren ab.
Die heutigen Senioren verfügen verstärkt über einen Pkw-Zugang. Bei den Wegezwecken der Rentner dominiert der Versorgungs- und Freizeitverkehr [Mack94, S. 413].
Das Verkehrsverhalten im Alter wird bereits durch die Erfahrungen in der Jugend entscheidend geprägt (Verkehrssozialisation). Im Fall der älteren Generation rückt deren zunehmender Anteil an der Gesamtbevölkerung (demographische Entwicklung) immer stärker in den Vordergrund und bedarf deshalb bei der Konzeption der Verkehrssysteme einer besonderen Berücksichtigung. Dies gilt insbesondere für den öffentlichen Verkehr [infas10a].
7. Mobilitätsseingeschränkte Personen
Mobilitätseingeschränkte Personen innerhalb einer Gruppe sind auf die Bewältigung der gleichen Mobilitätsbedürfnisse angewiesen wie nicht-mobilitätseingeschränkte Personen. Allerdings ist für die Realisierung des Mobilitätsbedürfnisses der Gesundheitszustand ausschlaggebend. Fehlen bauliche oder fahrzeugtechnische Voraussetzungen (z. B. Niederflurfahrzeuge im ÖPNV), so kann damit der Ausschluss dieser Personengruppe aus dem üblichen Aktivitätsspektrum verbunden sein [Mack94, S. 382 ff.].
Ansprechpartner
Institut für Mobilitäts- und Stadtplanung, Universität Duisburg-Essen, Prof. Dr.-Ing. Dirk Wittowsky
Zugehörige Wissenslandkarte(n)
Mobilität in Stadt und Land (Stand des Wissens: 28.11.2023)
https://www.forschungsinformationssystem.de/?344555
Literatur
[DVWG11] Ahrens, G.-A., Ließke, F. Urbane Mobilität heute - Status quo, veröffentlicht in Ansprüche einer mobilen Gesellschaft an ein verlässliches Verkehrssystem, Ausgabe/Auflage 1. Auflage, 2011, ISBN/ISSN 978-3-942488-05-1
[HaHu08a] Haustein, S., Hunecke, M., Kemming, H. Mobilität von Senioren. Ein Segmentierungsansatz als Grundlage zielgruppenspezifischer Angebote, veröffentlicht in Internationales Verkehrswesen, Ausgabe/Auflage 5, 2008
[infas10] DLR - Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt, Institut für Verkehrsforschung, infas Institut für angewandte Sozialwissenschaft Mobilität in Deutschland 2008 (MiD 2008) , 2010/02
[infas10a] DLR - Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt, Institut für Verkehrsforschung, infas Institut für angewandte Sozialwissenschaft , Follmer, R., Gruschwitz, D., Jesske, B., Quandt, S., Lenz, B., Nobis, C., Köhler, K., Mehlin, M. Mobilität in Deutschland 2008 (MiD 2008) - Ergebnisbericht Struktur - Aufkommen - Emissionen - Trends, 2010/02
[Kut72] Kutter, E. Demographische Determinanten städtischen Personenverkehrs, 1972
[Mack94] Mackensen, Rainer Mobilitätsmuster - Kommunikations- und Mobilitätsbedarf in alters- und geschlechtsspezifischer Differenzierung, veröffentlicht in Mobilität und Kommunikation in den Agglomerationen von heute und morgen, Berlin, 1994
[Mehl01a] Mehlhorn, G. Verkehr Straße, Schiene, Luft, veröffentlicht in Ingenieurbau, Ernst & Sohn, 2001, ISBN/ISSN 3-433-01576-7
[SrV09] TU Dresden, Lehrstuhl Verkehrs- und Infrastrukturplanung, Prof. Dr.-Ing. G.-A. Ahrens, Ahrens, G.-A., Wittwer, R., Ließke, F., Hubrich, S. Sonderauswertung zur Verkehrserhebung "Mobilität in Städten - SrV 2008" Städtevergleich, TU Dresden, 2009/11
[Stei05] Steierwald, G, et al. Stadtverkehrsplanung - Grundlagen, Methoden, Ziele, Ausgabe/Auflage 2, Springer-Verlag, Berlin 2005, 2005
Weiterführende Literatur
[Hune04] Hunecke, M. Die Mobilitätsbedürfnisse der Deutschen. Zwischen ausgelebter Individualität, Markt und Moral, veröffentlicht in Tagungsdokumentation: Forschungskonferenz Mobilität, Berlin, 2004/11
[ISOE03] Zinn, F., Hunecke, M., Schubert, S. ZIMONA - Zielgruppen und deren Mobilitätsbedürfnisse im Nahverkehr der Ballungsräume sowie im ländlichen Raum, Dortmund/Frankfurt am Main, 2003
[KaLu03] Kasper, B., Lubecki, U. Zu Fuß unterwegs - Mobilität und Freizeit älterer Menschen, veröffentlicht in Raum und Mobilität: Arbeitspapiere des Fachgebiets Verkehrswesen und Verkehrsplanung, Ausgabe/Auflage Nr. 10, Dortmund, 2003/09
Glossar
Verhaltenshomogene Gruppen Verhaltenshomogene Gruppen können auf der Basis von sozialen Merkmalen, wie Alter, Geschlecht, Führerscheinbesitz, Stellung im Erwerbsprozess u. a. gebildet werden. Darunter wird die Aufteilung von Personen in Gruppen verstanden, wobei sich das Verhalten der Personen innerhalb einer Gruppe kaum , das zu anderen Gruppen allerdings erheblich unterscheidet.
Öffentlicher Personennahverkehr
Der öffentliche Personennahverkehr ist juristisch im Personenbeförderungsgesetz (PBefG) definiert. Laut Paragraf 8, Absatz 1 und 2 umfasst der ÖPNV "die allgemein zugängliche Beförderung von Personen mit Straßenbahnen, Obussen und Kraftfahrzeugen im Linienverkehr, die überwiegend dazu bestimmt sind, die Verkehrsnachfrage im Stadt-, Vorort- oder Regionalverkehr zu befriedigen". Taxen oder Mietwagen können dieses Angebot ersetzten, ergänzen oder verdichten.
Der Begriff ÖPNV bezieht sich in der Regel auf Strecken mit einer gesamten Reiseweite von weniger als 50 Kilometern oder einer gesamten Reisezeit von weniger als einer Stunde. Das in einer Stadt oder Region erforderliche Nahverkehrsangebot und dessen Eignung hinsichtlich Nachhaltigkeit und Klimaschutz wird in einem Nahverkehrsplan definiert und festgehalten.

Auszug aus dem Forschungs-Informations-System (FIS) des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur

https://www.forschungsinformationssystem.de/?114287

Gedruckt am Mittwoch, 24. April 2024 07:33:18