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Verordnung (EG) 1370/2007 über öffentliche Personenverkehrsdienste auf Straße und Schiene

Erstellt am: 30.11.2006 | Stand des Wissens: 06.12.2022
Synthesebericht gehört zu:
Ansprechpartner
TU Dresden, Professur für Bahnverkehr, öffentlicher Stadt- und Regionalverkehr, Prof. Dr.-Ing. R. König

Am 3.12.2009 ist die Verordnung (EG) Nr. 1370/2007 über öffentliche Personenverkehrsdienste auf Schiene und Straße in Kraft getreten. Sie löst das vorher bestehende, zum Teil bis zu 40 Jahre alte Verordnungsrecht für den ÖPNV ab. Die bisherigen Verordnungen (EWG) Nr. 1191/69 und (EWG) Nr. 1107/70 sind damit aufgehoben. [(EG) Nr. 1370/2007]

Regelungsbereich der Verordnung (VO) ist das Beihilfen- und Vergaberecht im Personenverkehr auf Straße und Schiene im Nah-, Regional- und Fernverkehr (Art. 1). Bei historischen und touristischen Verkehren kommt VO 1370/2007 nicht zur Anwendung. Das allgemeine Vergaberecht hat Vorrang vor dem speziellen Vergaberecht der VO 1370/2007. Die allgemeinen EU-Vergaberichtlinien 2004/17/EG oder 2004/18/EG sind somit auch für den Personenverkehr (Art. 5, Abs. 1) anzuwenden. Nur bei Dienstleistungskonzessionen gelten die speziellen Vergabevorschriften in Art. 5 Abs. 2 bis 6 der VO 1370/2007.

Artikel 3 bildet den eigentlichen Kern der Verordnung. Hierin ist geregelt, dass die zuständige Behörde gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen für die Verkehrsunternehmen festlegen und im Gegenzug zur Refinanzierung des Auftrags finanzielle Ausgleichszahlungen (z.B. Fahrgeldeinnahmen) und/oder ausschließliche Rechte gewähren darf (Art. 3, Abs. 1). Die VO 1370/2007 sieht für diesen Ausgleichs- und Verpflichtungsmechanismus zwei Möglichkeiten vor. Im Regelfall muss die zuständige Behörde einen öffentlichen Dienstleistungsauftrag mit dem Verkehrsunternehmen abschließen (Art. 3, Abs. 1). Das Erlassen allgemeiner Vorschriften ist nur im Zusammenhang mit dem Festlegen von Höchsttarifen für alle Fahrgäste oder bestimmte Fahrgastgruppen möglich (Art. 3, Abs. 2).

Obligatorischer Inhalt von Dienstleistungsaufträgen und allgemeinen Vorschriften sind:
  • Klare Definition der zu erfüllenden gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen
  • Zuvor festgelegte objektive und transparente Berechnung der Ausgleichsleistung
  • Festlegung der Kosten- und Einnahmeaufteilung
  • Eine übermäßige Ausgleichsleistung ist verboten (Art. 4, Abs. 1, 2). Öffentliche Dienstleistungsaufträge sind befristet. Ihre maximale Laufzeit richtet sich nach der Art des Verkehrsträgers (Art. 4, Abs. 3,4).

    Für einen Vertrag über eine Dienstleistungskonzession bestehen nach VO 1370/2007 folgende Möglichkeiten:
    • Ausschreibung: Durchführen eines wettbewerblichen Vergabeverfahrens, das allen Betreibern offen steht, fair sein und den Grundsätzen der Transparenz und Nichtdiskriminierung genügen muss; nach einer Vorauswahl können unter Einhaltung dieser Grundsätze Verhandlungen mit den Unternehmen durchgeführt werden (Art. 5, Abs. 3)
    • Direktvergabe: Die zuständige Behörde kann den zukünftigen Dienstleistungsauftrag ohne Durchführung eines wettbewerblichen Verfahrens an einen internen Betreiber vergeben, der beispielsweise die aktuelle Verkehrsbedienung durchführt.
      • Eigenerbringung: Die Eigenerbringung kann nach nationalem Recht untersagt sein. Die zuständige Behörde beschließt, selbst öffentliche Personenverkehre zu erbringen bzw. öffentliche Dienstleistungsaufträge ohne Ausschreibung an ein eigenes, rechtlich getrenntes Unternehmen (interner Betreiber) zu vergeben. Der interne Betreiber darf sich nicht außerhalb des Zuständigkeitsbereichs der eigenen Behörde an Vergabeverfahren zur Erbringung öffentlicher Personenverkehrsleistungen beteiligen (Art. 5, Abs. 2).
      • Bagatellgrenze: Die Vergabe nach der Bagatellgrenze kann nach nationalem Recht untersagt sein. Bei einem geschätzten Jahresdurchschnittswert von weniger als 1 Mio. EUR oder einer jährlichen öffentlichen Personenverkehrsleistung von weniger als 300 000 km kann die zuständige Behörde entscheiden, den öffentlichen Dienstleistungsauftrag direkt zu vergeben. Bei Direktvergabe an kleine oder mittlere Unternehmen, die max. 23 Fahrzeuge betreiben, können diese Schwellen verdoppelt werden (Art. 5, Abs. 4).
      • Notmaßnahme: Im Fall der Unterbrechung eines Verkehrsdiensts bzw. bei unmittelbarer Gefahr des Eintretens einer Unterbrechung ist die Ausweitung eines öffentlichen Dienstleistungsauftrags für maximal zwei Jahre zulässig (Art. 5, Abs. 5).
      • Eisenbahnverkehr: Im Eisenbahnverkehr (jedoch nicht im Verkehr mit U-Bahnen oder Straßenbahnen) können öffentliche Dienstleistungsaufträge direkt vergeben werden. Die maximale Vertragslaufzeit ist auf zehn Jahre begrenzt (Art. 5, Abs. 6).

    Die VO 1370/2007 gilt verbindlich und unmittelbar in allen Mitgliedsstaaten und bedarf keiner weiteren Umsetzungsschritte des deutschen Gesetzgebers. Somit ist VO 1370/2007 auch gegenüber dem PBefG, mit seiner auf der inzwischen außer Kraft gesetzten (EWG) Nr. 1191/69 basierenden Teilbereichsausnahme für eigenwirtschaftliche Verkehre, vorrangig. Die bisherige Unterscheidung in eigen- und gemeinwirtschaftliche Linienverkehre entfällt mit Inkrafttreten der VO 1370/2007.

    Die Beihilferegeln der VO 1370/2007 gelten uneingeschränkt und auch für vor Inkrafttreten der VO 1370/2007 geschlossene Verträge. Bestandsregeln sind daher an das neue Recht anzupassen. Für die Vergaberegeln gelten umfangreiche Übergangsregelungen (Art. 8). Altverträge können demnach bis ans Ende ihrer Laufzeit gültig sein. Für Neuverträge sieht VO 1370/2007 eine stufenweise Einführung des Vergabezwangs bis zum Jahr 2019 vor. In der zweiten Hälfte des Übergangszeitraums können Unternehmen, deren Auftragswert zu mindestens 50% aus direkt vergebenen Aufträgen besteht, von Vergabeverfahren ausgeschlossen werden (Art. 8).[(EG) Nr. 1370/2007; Wach10]

    Mit dem Inkrafttreten des europäischen Regelungskonzepts der VO 1370/2007 bestehen Widersprüche und Harmonisierungsbedarf zwischen europäischem und deutschem Recht. Unklar ist im straßengebundenen ÖPNV das Verhältnis von öffentlichen Dienstleistungsaufträgen nach VO 1370/2007 und Genehmigungen nach deutschem PBefG. Über dieses Verhältnis wird zur Zeit in Fachkreisen kontrovers diskutiert. Dem deutschen Gesetzgeber obliegt daher die zügige Harmonisierung der Liniengenehmigung nach PBefG mit dem Europarecht. Da die Zuständigkeiten zur Genehmigungs-, Finanzierungs- und Versorgungsverantwortung in der Bundesrepublik Deutschland in verschiedenen Behörden (Aufgabenträger, Genehmigungsbehörden) angesiedelt sind, bestehen zudem in formeller Sicht Unklarheiten, welche Behörde die VO 1370/2007 umzusetzen hat. In der vielschichtigen, föderalen ÖPNV-Behördenstruktur ist daher eine Neuordnung der Zuständigkeiten zu erwarten. [Saxinger10; Zeisel10]
Ansprechpartner
TU Dresden, Professur für Bahnverkehr, öffentlicher Stadt- und Regionalverkehr, Prof. Dr.-Ing. R. König
Zugehörige Wissenslandkarte(n)
Organisation des ÖPNV (Stand des Wissens: 06.12.2022)
https://www.forschungsinformationssystem.de/?208400
Literatur
[Saxinger10] Prof. Dr. Andreas Saxinger, Dipl.-Jurist Jörg Niemann Linienverkehrsgenehmigungen nach neuem EU-Recht, veröffentlicht in Der Nahverkehr, Ausgabe/Auflage April 2010, Alba Fachverlag Düsseldorf, 2010/04, ISBN/ISSN ISSN 0722-8287
[Zeisel10] Dr. jur. Josef Zeiselmair, Prof. Dr. Andreas Saxinger, Dipl.-Jurist Jörg Niemann Pro und Contra - Linienverkehrsgenehmigungen nach neuem EU-Recht, veröffentlicht in Der Nahverkehr, Ausgabe/Auflage Juli/August 2010, Alba Fachverlag Düsseldorf, 2010/08, ISBN/ISSN ISSN 0722-8287
Weiterführende Literatur
[Ipsen08] Ipsen, Winrich, Dr. Die EU-Verordnung 1370/07 und das Personenbeförderungsgesetz, veröffentlicht in Der Nahverkehr, Ausgabe/Auflage 6/2008, 2008
[Fritz07] Fritz, Gerhard Diesseits und jenseits der Grenzen: Finanzierung des ÖPNV, 2007/02
[Sax08] Saxinger, Andreas, Prof. Dr., Fischer, Robert, Dr. Die Verordnung (EG) Nr. 1370/2007, veröffentlicht in Verkehr und Technik, Ausgabe/Auflage 2/2008, 2008
[Wach10] Dr. Lorenz Wachinger, Dr. Christoph Zimmer Neue beihilferechtliche Vorgaben für Direktvergaben im SPNV, veröffentlicht in Der Nahverkehr, Ausgabe/Auflage Juli/August 2010, Alba Fachverlag Düsseldorf, 2010/08, ISBN/ISSN ISSN 0722-8287
[Deus08] Deuster, Jan, Dr. Neue EU-Marktzugangsverordnung für öffentlichen Personenverkehr, veröffentlicht in Der Nahverkehr, Ausgabe/Auflage 4/2008, 2008
[Prieß08] Prieß, Hans-Joachim, Dr., Hölzl, Franz Josef, Dr. Regulierter Wettbewerb: SPNV fährt "zweigleisig" weiter - Die Verordnung EG 1370/07, Konsequenzen für SPNV-Vergaben, veröffentlicht in Der Nahverkehr, Ausgabe/Auflage 4/2008, 2008
[Witt08] Wittig, Oliver, Dr., Schimanek, Peter, Dr. Sanfte Anpassung oder drastischer Paradigmenwechsel? - Die Umsetzung der neuen EU-Verordnung, veröffentlicht in Der Nahverkehr, Ausgabe/Auflage 3/2008, 2008
[Part08] Partsch, Philippe-Emmanuel, Prof. Dr. jur., Wellens, Vincent, Lic. jur. Vergaberegeln im ÖPNV - Stand und Perspektiven im Lichte der neuen europäischen ÖPNV-Verordnung, veröffentlicht in Der Nahverkehr, Ausgabe/Auflage 3/2008, 2008
[(EG) Nr. 1370/2007] Verordnung (EG) Nr. 1370/2007
[PBefG] Personenbeförderungsgesetz (PBefG)
Glossar
Aufgabenträger
Aufgabenträger bestellen bei den Verkehrsunternehmen die im Rahmen der Daseinsvorsorge gewünschten Nahverkehrsleistungen. Dabei gibt es Unterschiede zwischen dem Schienenpersonennahverkehr (SPNV) und dem straßengebundenen öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV).
Im SPNV sind seit Bahnreform und ÖPNV-Regionalisierung im Jahr 1995/96 anstelle des Bundes die Länder für die Planung, Organisierung und Finanzierung verantwortlich. In einigen Ländern sind die Aufgabenträger für das gesamte Land zuständig, wie in Bayern, in anderen betreuen sie regional abgegrenzte Gebiete, wie in Nordrhein-Westfalen. Teilweise wird die Aufgabenträgerschaft den Verkehrsverbünden zugewiesen, wie in Hessen.
Die Aufgabenträgerfunktion für den straßengebundenen ÖPNV ist den Landkreisen oder kreisfreien Städten zugeordnet.
Öffentlicher Personennahverkehr
Der öffentliche Personennahverkehr ist juristisch im Personenbeförderungsgesetz (PBefG) definiert. Laut Paragraf 8, Absatz 1 und 2 umfasst der ÖPNV "die allgemein zugängliche Beförderung von Personen mit Straßenbahnen, Obussen und Kraftfahrzeugen im Linienverkehr, die überwiegend dazu bestimmt sind, die Verkehrsnachfrage im Stadt-, Vorort- oder Regionalverkehr zu befriedigen". Taxen oder Mietwagen können dieses Angebot ersetzten, ergänzen oder verdichten.
Der Begriff ÖPNV bezieht sich in der Regel auf Strecken mit einer gesamten Reiseweite von weniger als 50 Kilometern oder einer gesamten Reisezeit von weniger als einer Stunde. Das in einer Stadt oder Region erforderliche Nahverkehrsangebot und dessen Eignung hinsichtlich Nachhaltigkeit und Klimaschutz wird in einem Nahverkehrsplan definiert und festgehalten.
Personenbeförderungsgesetz
Das Personenbeförderungsgesetz (PBefG) regelt die entgeltliche oder geschäftsmäßige Beförderung von Personen mit Straßenbahnen, Oberleitungsbussen (Obussen) oder Kraftfahrzeugen im Linien- und Gelegenheitsverkehr. Die Novelle des PBefG schafft einen Rechtsrahmen für neue digitale Mobilitätsangebote und berücksichtigt stärker die Belange des Klimaschutzes, der Verkehrseffizienz und die Erreichbarkeit im Sinne gleichwertiger Lebensverhältnisse. Des Weiteren sind im PBefG Vorgaben zur Wahrung von sozialen Standards zugunsten der Beschäftigten verankert.
gemeinwirtschaftlich
Eine vielschichtig interpretierte Leitvorstellung für die Steuerung von dem Nutzen der Allgemeinheit verpflichteten Betrieben. Zur Operationalisierung gemeinwirtschaftlichen Verhaltens wurden zahlreiche einzelwirtschaftliche Handlungsmaximen aufgestellt: u.a. Gewinnverzichtsregel, kostenorientierte Preispolitik, Gewinnverwendung im Allgemeininteresse/ Gemeinwohl, Maximierung der zu erstellenden und abzugebenden Leistung bei Kostendeckung.
Auf den Verkehrssektor bezogen beudeutets dies, dass mittels spezifischer Auflagen (v.a. Betriebs-, Beförderungs- und Tarifpflicht) eine Umgestaltung der Zielfunktionen der im Verkehrssektor tätigen Unternehmen zwecks Berücksichtigung von struktur-, regional- und sozialpolitischer Ziele sowie der staatlichen Daseinsvorsorge bewirkt wird.
Verkehrsleistung
Die Verkehrsleistung gibt Auskunft über die Inanspruchnahme von Ressourcen. Als Verkehrsleistung wird die auf eine Zeiteinheit t (zum Beispiel ein Jahr) bezogene Verkehrsarbeit definiert und als Quotient dargestellt. Die Verkehrsarbeit wird dabei als Produkt von Verkehrseinheiten (zum Beispiel Güter oder Personen) und der durch diese zurückgelegten Strecke gebildet. In der Verkehrswissenschaft sind die Einheiten Personenkilometer pro Jahr [Pkm/a] oder Tonnenkilometer pro Jahr [tkm/a] gebräuchlich.

Auszug aus dem Forschungs-Informations-System (FIS) des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur

https://www.forschungsinformationssystem.de/?208032

Gedruckt am Donnerstag, 28. März 2024 15:14:33